Die Uni braucht Diskussionsräume

Anna (Universität Bern)

Die weltweiten Universitätsproteste haben in der Schweiz und im Ausland unterschiedlichste Reaktionen ausgelöst. Für mich als Studentin ist unverständlich, mit welcher Vehemenz und Kompromisslosigkeit den beiden Universitätsbesetzungen in Bern vom 12. bis 15. und vom 30. Mai durch die Universitätsleitung begegnet wurde. Statt sich auf einen Dialog mit den Besetzenden einzulassen, lehnte die Universitätsleitung jegliche Diskussion ab, stellte die Protestierenden in ihren Medienmitteilungen als gefährlich, antisemitisch und handgreiflich dar und begegnete den friedlichen Besetzungen mit polizeilicher Räumung und anschliessenden Kontrollen durch einen Sicherheitsdienst. Das repressive Vorgehen sowie die einseitige Darstellung der Abläufe seitens der Universitätsleitung haben einen Dialog auf Augenhöhe verunmöglicht und sind vom Vorstand der Studierendenschaft zu Recht als unangemessen kritisiert worden.

Einem friedlichen Studierendenprotest mit fehlender Dialogbereitschaft und polizeilichem Zwang zu begegnen, sendet eine klare Botschaft: Zivilgesellschaftliches Engagement und kritisches Denken sind unerwünscht. Besonders bei der zweiten Besetzung, die von vorneherein klar als zeitlich begrenzte, eintägige Aktion kommuniziert worden war, stand der durch die Universitätsleitung angeordnete Polizeieinsatz in keinem Verhältnis zum Protest und lässt sich als Einschüchterungsversuch deuten. Es erstaunt nicht, wenn dieses Vorgehen auf viele Studierende und Universitätsmitarbeitende verunsichernd wirkt, und ist insbesondere problematisch in einem Klima, in dem Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit zunehmen.

Die Studierendenproteste sind in Medien und Öffentlichkeit teilweise scharf angegriffen worden. Wenn auch pauschale Antisemitismus- und Gewaltvorwürfe zu kurz greifen, gibt es durchaus Aspekte, die kritisch gesehen werden können. So scheint etwa der Anspruch des Protests, für die Wissenschaftsfreiheit einzustehen, nur schwer vereinbar mit den Forderungen nach einem wissenschaftlichen Boykott – zumindest, wenn dieser Anspruch absolut verstanden wird. Der Nutzen akademischer Boykotte zur Durchsetzung politischer Anliegen ist zudem umstritten; es gibt Hinweise, dass der akademische Boykott Südafrikas nur einen geringen Beitrag für das Ende der Apartheid geleistet hat.[1] Andererseits hat die israelische Anthropologin Maya Wind argumentiert, dass die israelischen Universitäten nicht nur an der Waffenentwicklung, sondern auch aktiv an der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung beteiligt sind und deren akademische Freiheit massiv beschränken: unter anderem, indem Palästinenser:innen der Zugang zu universitärer Bildung erschwert oder verunmöglicht wird, indem israelische Universitäten sich an der militärischen Ausbildung und an der Waffenentwicklung beteiligen oder rechtswissenschaftliche Argumente entwickeln, die die Tötung palästinensischer Zivilpersonen rechtfertigen sollen.[2] Die Zerbombung sämtlicher palästinensischer Universitäten durch die israelische Armee hat universitäres Leben in Palästina verunmöglicht. Wind bezeichnet die systematische Zerstörung des palästinensischen Bildungssystems übereinstimmend mit UNO-Expert:innen als «Scholastizid» und spricht sich für einen Boykott aus.

Wie zielführend die Boykottforderungen für das Anliegen eines Stopps der Gewalthandlungen sind, sei hier dahingestellt. Unabhängig vom genauen Inhalt der Protestforderungen und den gewählten Mitteln zwecks ihrer Umsetzung zeigen die schweizweiten Universitätsbesetzungen aber vor allem eines: Es gibt ein offenkundiges Bedürfnis in der Studierendenschaft, auf die Verstösse gegen Menschenrechte und internationales Recht im Gazakrieg aufmerksam zu machen und für ein Ende der Gewalthandlungen einzutreten.

Dieses humanitäre Anliegen ist grundsätzlich legitim und sollte gehört werden – auch an der Universität. Die Universität ist für Studierende ein politischer Ort, auch wenn der ehemalige Rektor Christian Leumann dies bestritten hat. Viele Studierende haben an der Universität ein Umfeld, in dem sie mit anderen über politische Themen diskutieren und die eigene politische Haltung schärfen und überdenken. Zudem sind die Universitäten in einen gesellschaftlichen Rahmen eingebettet, etwa indem Wissenschaftler:innen die Politik beraten. Die Universität Bern bekennt sich zudem in ihrem Leitbild zur «ethische[n] Verantwortung» ihrer Forschung gegenüber Mensch und Natur. Dass die Wissenschaft von Politik und Werten nicht vollkommen losgelöst ist, versteht sich insofern von selbst.

Leumanns Aussage, die Universität sei kein politischer Ort, verblüfft ausserdem angesichts der Tatsache, dass die Universität Bern im Februar 2022 ein offizielles Statement von Swissuniversities mitgetragen hat, das den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt hat. Die am Protest beteiligten Studierenden haben zu Recht wiederholt auf diese Widersprüchlichkeit aufmerksam gemacht. Der Hinweis der damaligen Vizerektorin Virginia Richter, die Konfliktlage zwischen Israel und Palästina sei komplexer zu beurteilen als diejenige zwischen Russland und der Ukraine, reicht nicht als Begründung für ein Ausbleiben einer Stellungnahme. Komplexität sollte an einer Bildungsinstitution nicht mit Schweigen begegnet werden.[3] Zudem zeigt das Beispiel der Universität Zürich, dass eine Verurteilung der beidseitigen Gewalthandlungen keine Parteinahme bedeutet.

Die Universität als Ort des gesellschaftlichen Austauschs und der wissenschaftlichen Expertise ist mit den nötigen Mitteln ausgestattet, um auch schwierige Fragen mit politischer Dimension reflektiert zu diskutieren. Komplexe, politisch brisante Vorgänge zu erforschen, erfordert unter anderem transparente und überlegte Methoden, eine sorgfältige Kontextualisierung und die Reflexion der eigenen Standpunkte – bedeutet aber keine aktivistische Handlung. Die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus ist keineswegs neu, sondern gerade in den vergangenen Monaten auch Angehörigen der Universität Bern gestellt worden. Dass diese Frage immer wieder aufkommt, zeigt, dass sie kaum abschliessend zu beantworten ist und die Grenzen zwischen Wissenschaft und Aktivismus immer wieder neu ausgehandelt werden. Da unter den Studierenden offenbar ein Bedürfnis besteht, solche Fragen zu diskutieren, böte es sich an, sie stärker im Studium zu thematisieren, statt sie einer polarisierten medialen Debatte zu überlassen.

Die Universität Bern möchte solchen Fragen mit einer «Arbeitsgruppe Wissenschaftlichkeit» begegnen. Die neue Rektorin Virginia Richter nennt zudem Workshops zum Thema Antisemitismus als Möglichkeit, den Unterschied zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik am Staat Israel zu verdeutlichen. Dass solche Diskussionen über das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Aktivismus an Schweizer Universitäten zunehmend geführt werden sollen, ist grundsätzlich zu begrüssen. Darüber sollte jedoch nicht der Anlass der Proteste aus dem Blick geraten: die Gewalthandlungen im Gazakrieg, die laut dem Internationalen Gerichtshof und führenden Historiker:innen wie dem Genozidforscher Omer Bartov wahrscheinlich einen Genozid an den Palästinenser:innen bedeuten. Das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung sollte nicht zum Anlass genommen werden, um bloss über die Wissenschaftsfreiheit an Schweizer und anderen westlichen Unis zu diskutieren[4] – auch wenn diese Debatte zweifellos wichtig und notwendig ist. Virginia Richter hat gegenüber der Berner Zeitung die Bereitschaft signalisiert, auch solche Fragen zu thematisieren: «Man kann aber darüber reden, wie es in Gaza weitergeht. Viele Universitäten sind zerstört worden. Wie können wir helfen?» Es bleibt zu hoffen, dass diesen Worten Taten folgen.


[1] Lorraine J. Haricombe, F. W. Lancaster, Out in the Cold. Academic Boycotts and the Isolation of South Africa, Arlington 1995.

[2] Maya Wind, Towers of Ivory and Steel. How Israeli Universities Deny Palestinian Freedom, London/New York 2024, 146–157, 56f., 43f.

[3] Vgl. Noam Chomsky, Ilan Pappé, On Palestine, London 2015, 13.

[4] Noam Chomsky, Ilan Pappé, On Palestine, London 2015, 79.