Das «globale Mittelalter» und die Gegenwart der Geschichtswissenschaft


Das «globale Mittelalter» ist populär wie paradox: Ausgerechnet in der Globalgeschichte und ausgerechnet als postkoloniales Projekt wird der vielkritisierte Epochenbegriff gegenwärtig neubelebt. Genau deshalb verweist das «globale Mittelalter» auf grundlegende Fragen, die die Geschichtswissenschaft der Gegenwart umtreiben: der Umgang mit postkolonialer Kritik, Diskussionen um Globalisierung und Globalität und das Verhältnis von Vormoderne, Moderne und Gegenwart.
Nach einem Überblick über «die Mittelalter» in der postkolonialen Welt wird das «globale Mittelalter» als Projekt vorgestellt, bei dem das Konzept zugleich Gegenstand und Instrument von Kritik ist. Am Beispiel des «afrikanischen Mittelalters» werden Verbindungslinien zwischen den Diskussionen heute und jenen der Dekolonisationszeit aufgezeigt, so etwa das Problem von Aneignung und Kritik, Praktiken der Synchronisierung und des Vergleichens. Zum Schluss frage ich nach den involvierten Konzepten von Moderne und Globalität und diskutiere, inwiefern das «globale Mittelalter» zur Debatte um Historizität und Präsentismus beiträgt. Der Essay versteht sich als Beobachtung zweiter Ordnung, aber auch als Plädoyer dafür, das «globale Mittelalter» als Anfrage an die Veränderungsfähigkeit der Disziplin ernstzunehmen.

Erschienen in: traverse 2022/2, S. 41