Von Irland bis ins Baltikum: Alteritätsdiskurse und die Eroberung der Ränder Europas

(De l’Irlande à la Baltique: discours de l’altérité et conquête des marges européennes)

Im 12. Jahrhundert expandierte das lateinische Europa nicht nur nach Osten, sondern auch nach Westen. Zur gleichen Zeit, als die Kreuzzüge gegen die Heiden im Baltikum einsetzten, nahmen die Plantagenet von England aus Irland ein. Da

diese Insel als eher «heidnisch» denn als christlich beschrieben wird, obwohl Irland im 5. Jahrhundert christianisiert worden war, liegt es nahe, Parallelen zwischen den baltischen und den irischen Grenzgebieten zu sehen. Die von der postkolonialen Kritik vorgeschlagenen Denkansätze ermöglichen es, die Mechanismen, mit denen die Bevölkerung der Insel ausgegrenzt wurde, um ihre Unterwerfung durch England zu rechtfertigen, neu zu bewerten: Sie wurde als rückständig und barbarisch beschrieben, die Inselbewohner*innen seien schlechte Christen und sexuell deviant. Daher sollten sie von den Vertretern eines Englands, das die höfische Kultur und den «reinen» Katholizismus der gregorianischen Reform verkörperte, auf den rechten Weg gebracht werden. In diesem Sinne werden die Ir*innen den Balt*innen angenähert, die entweder Heid*innen waren oder erst vor kurzem zum Christentum konvertiert waren und die man ohne zu zögern als Apostat*innen mit blutrünstigen Sitten präsentierte. Der Artikel vergleicht die Eroberung Irlands und des Baltikums und untersucht, wie die Beschreibung der Bewohner*innen die Besetzung dieser Gebiete rechtfertigt und inwieweit der Diskurs der Eroberer dazu beigetragen hat, das Bild eines «Randgebiets» zu kreieren, das diesen Regionen noch lange anhaftete.

(Übersetzung: Isabelle Schürch, Anja Rathmann-Lutz)

Erschienen in: traverse 2022/2, S. 92