Im Kontext der Skandale um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche rückten auch die kirchlichen Archive ins Rampenlicht. Auf der Grundlage konkreter Forschungserfahrungen in der Schweiz präsentiert dieser Artikel eine Bestandsaufnahme der Schwierigkeiten, mit denen Opfer und Historiker*innen konfrontiert werden, wenn sie auf der Suche nach Antworten zu den Bedingungen der Ermöglichung von Missbrauch sind. Diese Suche ist ein regelrechter Hindernisparcours, der vom Auffinden und Lokalisieren von Archiven über nicht vorhandene oder lückenhafte Inventare, willkürliche Fristen und Genehmigungen für die Einsichtnahme und das unerklärliche Verschwinden von Dokumenten bis hin zur Veröffentlichung der Ergebnisse reicht. Die Schwierigkeiten resultieren aus einer anhaltenden Kultur der Geheimhaltung, die von den Entwicklungen modernen Staatswesens nicht beeinflusst wurde. Die kirchlichen Archive waren und sind von den öffentlichen Archiven vollständig separiert und unterlagen nicht denselben Anforderungen an Professionalisierung, Zugänglichkeit und Transparenz. Sie haben ihre Funktion, die Autorität und das Prestige der Institution zu bewahren, behalten.
Demontage einer Geheimniskultur. Freud und Leid der Forschung in den Archiven der katholischen Kirche (19.–21. Jahrhundert)
(Démanteler une culture du secret. Heurs et malheurs de la recherche dans les archives de l’Église catholique (XIXe–XXIe siècles))Erschienen in: traverse 2023/1, S. 36