Vom Marktplatz zum Kosmos. Entstehung und Wirkung einer neuen Idee des Gleichgewichts, 1250–1375

(From Marketplace to Cosmos. The Emergence of a New Model of Balance and its Impact on Thought, 1250–1375)

Mein Vortrag historisiert «Gleichgewicht» in ideengeschichtlicher Perspektive. In der Epoche der europäischen Geschichte, auf die ich fokussiere, und grösstenteils auch heute noch bildet das Gefühl der An- oder Abwesenheit von Gleichgewicht die Basis der wichtigsten menschlichen Wertung: der Beurteilung dessen, was geordnet oder ungeordnet, schön oder hässlich, produktiv oder destruktiv, gesund oder krank ist. Zwar können wir alle die Bandbreite der Bedeutung erkennen, die mit dem Ideal des Gleichgewichts verbunden ist, wir können uns jedoch kaum vorstellen, dass dieses Ideal – oder das unausgesprochene Gefühl, das ihm zugrunde liegt – in bestimmten historischen Kontexten stark veränderlich ist. Ich hoffe, dagegen eine ganze Reihe von Argumenten liefern zu können: 1. Gleichgewicht hat eine Geschichte. 2. Zwischen etwa 1250 und 1350 entwickelte sich an den Universitäten ein neuer Sinn für Gleichgewicht und seine Möglichkeiten. Die komplexen Wahrnehmungen fanden 3. in einem neuen Modell von Gleichgewicht (balance) ihre Struktur und Form – dem ersten mittelalterlichen Modell, das das moderne Konzept des Ausgleichs (equilibrium) vorwegnahm. Dem Modell zugrunde lagen 4. bedeutsame Entwicklungen in der ökonomischen Theorie und Praxis, einschliesslich eines Wandels der scholastischen Einstellungen zu Profit und Reichtum. Da schliesslich 5. das Gleichgewichtsideal zentral für die scholastischen Spekulationen war, hatten tiefgreifende Veränderungen in dessen Modellierung den Effekt, dass sich insbesondere im Bereich der «Wissenschaft» neue imaginative und spekulative Möglichkeiten eröffneten. Das ermöglichte wiederum eine tiefgreifende Neukonzeption der Welt und ihrer Funktionsweise.

Erschienen in: traverse 2021/1, S. 42