Die diskursive Konstruktion des Anderen: Linguistische Effekte

(La construction discursive de l'altérité. Effets linguistiques)

Das Andere wird nicht als eine Figur sichtbar, welche eine zuvor existierende Identität bestätigen würde; die Figur des Anderen ist vielmehr das Ergebnis eines Prozesses, der bestimmte Vorgehensweisen der Konstruktion des Anderen zur Anwendung bringt. Diese Vorgehensweisen lassen mindestens ebensoviel erkennen über denjenigen, der sie realisiert, wie über das Andere, das sie konstruieren und damit für uns erfassbar machen. Der Behauptung der symbolischen und gesellschaftlich bestimmten Konstruktion des Anderen steht zwar die Selbstverständlichkeit entgegen, welche die Kategorien der Andersartigkeit besitzen, doch diese Selbstverständlichkeit ist gerade Zeichen für die Effizienz der in einer Kultur oder Gesellschaft etablierten Vorgehensweisen, jene Merkmale festzulegen und zuzuordnen, von denen sie sich distanziert.
In einem ersten Schritt erläutert der Aufsatz, auf welche Weise das Andere in den kontextbezogenen Praktiken der Sprache ausgeformt wird. Anschliessendwird die linguistisch beobachtbare Beziehung zum Anderen herausgegriffen, speziell in Hinsicht auf die diskursive Konstruktion sowohl einer Beziehung zwischen Subjekten, wie auch des anderen Verhältnisses zur Welt und der verändernden Auswirkungen auf die Beziehung zur eigenen Sprache. Diese verschiedenen Aspekte führen zu einer Reihe theoretischer Fragen, welche an Beispielen eines Korpus von Berichten französischer Italienreisender des 18. Jahrhunderts skizziert werden.
Die Analyse der Reiseberichte lässt verschiedene Verhaltensweisen in der Auseinandersetzung mit dem Anderen erkennen, die als Positionen zwischen zwei Extremhaltungen dargestellt werden können: Am einen Ende steht die Erkenntnis der Grenzen des mit Sprache Mitteilbaren, weshalb bestimmte nicht reduzierbare Eigenarten des Anderen sich dem beschreibenden Zugriff entziehen; das andere Ende des Kontinuums ist bestimmt durch den Anspruch, dass Sprache und Rationalität die Erkennbarkeit von Welt garantieren. In den Praktiken der Interaktion wie auch in jenen der abstrahierenden Reflexion verhüllt und enthüllt sich das Andere, das zugleich das sprechende Subjekt dazu bringt, sich zu enthüllen oder seine Macht auszuüben. Diese Prozesse können in den Spuren beobachtet werden, die sie in den Sprachpraktiken hinterlassen, in den Interaktionen zwischen Reisenden und Bereisten, in den Reiseberichten, worin sich die Interaktionen und die fernen Orte beschrieben finden. Aus den unterschiedlichen sprachlichen Verhaltensformen auf der Linie des erwähnten Kontinuums lassen sich die Bedingungen der Herausbildung eines Wissens erkennen, dessen Objekt nicht nur eine exotische Welt, sondern vielmehr die Begegnung mit dem Anderen ist, die Erfahrung der eigenen Grenzen, aber auch der Bereicherung durch die ungeahnten Möglichkeiten, welche andere Sinnhorizonte eröffnen.

(Übersetzung: Thomas Späth)

Erschienen in: traverse 1996/1, S. 51