Der Platz des Vaters. Adlige Väter und Kinder im 18. Jahrhundert

(La place du père. Pères et enfants nobles au XVIIIe siècle)

Die Korrespondenz der piemontesischen Adelsfamilie Ghilini aus Alexandria umfasst hunderte von Briefen vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. Der vorliegende Beitrag untersucht einen Bestand aus dem 18. Jahrhundert: Den Briefwechsel zwischen dem Vater und dem «Ammenvater» in dem es um die Pflege eines Säuglings geht, des alleinigen männlichen Nachkommen und Garanten des Fortbestehens der Linie. Die Anstrengungen, die für sein Überleben unternommen wurden, machen eine Analyse der Vaterrolle zwischen mit Fenchel parfümierten Windeln und Erbfolge möglich. Die Pflege des Säuglings oblag allein der Sorgfalt des Vaters und seiner Stellvertreter: dem Ammenvater, also dem Verwalter des Gutes, auf dem das Kind mit seiner Amme lebte; dem Arzt, der, wie auch der Priester, regelmässige Besuche machte; bei Krankheiten und während des Zahnens auch dem Bruder des Vaters, der eigens zum Kind reiste, um zu berichten. Die Rolle der Mutter war beschränkt auf die Aufgabe der Gebärerin von Nachkommen. Mit deren Erziehung hatte sie nichts zu tun, sie musste ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen und hätte durch die «animalische» Beziehung zu einem Säugling ihre Stellung in Familie und Gesellschaft verloren. Alle Aufgaben, die mit der Körperlichkeit des Kindes verbunden waren, wurden einer Frau aus einer niederen sozialen Schicht übertragen.
Die Fallstudie erlaubt es, über den Rahmen der Familie hinaus für die soziale Gruppe und schliesslich für die damalige Gesellschaft zu untersuchen, was «Vaterschaft» bedeutete. Die Ghilinis verfolgten eine klare Strategie mit dem Ziel, den Fortbestand der Familie und ihrer Güter zu sichern. Die Güterkonzentration wurde durch strenge Heiratsbeschränkungen erreicht: Nur der Älteste durfte heiraten und selbst Vater werden, während die übrigen Brüder militärische oder klerikale Laufbahnen verfolgten. So konzentrierte sich die Macht in der Familie auf einen einzigen Mann, den Vater, den Pfeiler der Tradition, analog zum absoluten Herrscher und zum Einen Sohn der Heiligen Familie. Über diesen Einen lebte die Familie und ihre Werte fort. Die «soziale Geburt» des Erbfolgers erfolgte in mehreren Etappen. Die Trennung von der Familie bald nach der Geburt versetzte das Kind in einen anderen als den «natürlichen» nämlich in einen hierarchischen, von den sozialen Verhältnissen geprägten Zusammenhang. Die Betreuungspersonen auf den verschiedenen Stufen vermittelten zwischen dem Kind und seinen Eltern. Elterliche Zuneigung und Sorge waren da, aber sie wurden durch die Vertreter der Eltern ausgedrückt. Im 18. Jahrhundert war die Kontrolle der Affekte und die Ablehnung der Körperlichkeit völlig verinnerlicht. Die Versorgung des «animalischen» Säuglings durch eine Amme war eine ritualisierte Lösung dieses Konfliktes. Die Trennung von der Mutter erleichterte wiederum, den Vater als zentrale Figur im Leben des Kindes zu installieren. Das unterstreicht die übergeordnete Bedeutung der symbolischen Ordnung, in der die Trennung von Mutter und Kind die Trennung der Geschlechter spiegelte.

(Übersetzung: Monica Rüthers)

Erschienen in: traverse 1998/1, S. 95