Biographie und Geschichte der Arbeiterbewegung - auf dem Weg zu sinnvollen Modellen und Lebensläufen

(L'approche biographique et l'histoire du mouvement ouvrier, en quête de modèles ou d'histoires de vie éclairantes?)

Der Zusammenhang von Kontext und Individuum spielt in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine besonders wichtige Rolle. Da letztere sich in erster Linie auf ein Kollektiv bezieht, dürften Sammelbiographien wie der «Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier francais» von Jean Maitron eine gute Lösung darstellen. Es gibt jedoch individuelle Wege, mit deren Analyse nicht nur wichtige Elemente der Arbeiterbewegung aufgezeigt werden können, sondern die auch ein eigenes Licht auf diese Geschichte werfen. Leider ist die Quellenlage in diesem Bereich sehr beschränkt. Die Arbeiter vernachlässigen in der Regel ihren bescheidenen schriftlichen Nachlass. So ist man gezwungen, Biographien in erster Linie anhand öffentlicher Dokumente zu erarbeiten. Dabei zeigt es sich, dass dieses biographische Material oft stark hagiographisch gefärbt ist.
Der vorliegende Artikel handelt von Adrien Wyss, ein Arzt und Sozialist der Jahrhundertwende. Am Anfang seiner reichen öffentlichen Tätigkeit in Genf stand die Gründung der «Societe des Samaritains». Dieses noch philanthropisch geprägte Engagement führte ihn zu den Sozialisten, bei denen er bald Führungsaufgaben und ein parlamentarisches Mandat übernahm. Um rascher seine eigenen konkreten Pläne verwirklichen zu können, gründete er den «Cercle cooperatif communiste», aus dem das Genfer Volkshaus hervorging. In den Aktivitäten, Misserfolgen und Enttäuschungen von Wyss spiegelt sich in eindrücklicher Weise ein Grundzug der Genfer Arbeiterbewegung, die in jener Phase sich vom Freisinn zu emanzipieren und eine eigene politische und kulturelle Identität zu schaffen versuchte. In dieser Perspektive gibt uns die Biographie von Wyss einen guten Einblick in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Man muss allerdings auf eine kritische Distanz bedacht sein und bewusst versuchen, die kollektiven Elemente zu betonen. In diesem Sinne wäre es sehr nützlich, wenn eine gesamtschweizerische biographische Datensammlung der Arbeiterbewegung, ähnlich den Beispielen im Ausland, aufgebaut werden könnte.

Erschienen in: traverse 1995/2, S. 35