Der Mythos der bolschewistischen Einmischung in den Landesstreik im November 1918. Die Geschichte einer französisch-schweizerischen Legendenbildung

(Le mythe de l’ingérence bolchevique dans la Grève générale de novembre 1918. Histoire d’une construction franco-suisse)

Lange Zeit wurde der Landesstreik vom November 1918 in der Schweiz als Ergebnis bolschewistischer Intrigen dargestellt. Ihnen sei es gelungen, einen Teil der schweizerischen Sozialdemokratie für sich zu gewinnen und die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die kriegsbedingten wirtschaftlichen Schwierigkeiten auszunutzen, um einen revolutionären Umsturz in Gang zu setzen. Die Ausweisung der Mission Berzin gab dieser in der Presse und später in populärhistorischen Werken weit verbreiteten Interpretation eine regierungsoffizielle Legitimation.
Der Artikel beschreibt, wie und durch welche Akteure sich dieser Mythos einer bolschewistischen Einmischung entwickelte. Er verweist auf die zentrale Rolle, die der französische Militärattaché in Bern, Gaston Pageot, und der französische Publizist russischer Herkunft Serge Persky bei seiner Konstruktion
spielten, indem sie apokryphe Dokumente verbreiteten. Der Artikel unterstreicht schliesslich die einigende Rolle dieses Mythos in einer bis dahin durch ihre gegensätzlichen Sympathien für die kriegführenden Mächte gespaltenen schweizerischen öffentlichen Meinung sowie seine mobilisierende Wirkung.
Dieser Mythos mit seiner verschwörungstheoretischen Rhetorik wurde während der Zwischenkriegszeit zum Dreh- und Angelpunkt eines offiziellen Antikommunismus, der zur Aufrechterhaltung der Isolierung Sowjetrusslands auf internationaler Ebene beitrug und innenpolitisch im Ausschluss kommunistischer Organisationen aus dem politischen Leben mündete.

Erschienen in: traverse 2018/2, S. 213