Die Fürsorge in Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von der sozial-gesundheitlichen Hilfe zum Kampf gegen soziale Ausgrenzungen

(Les politiques d’assistance en France au second 20e siècle. De l’aide socio-sanitaire à la lutte contre les exclusions)

Im Dienst der individuellen Existenzsicherung und des Fortbestands des sozialen Zusammenhaltes ist die Fürsorge – zusammen mit der Sozialversicherung – der wichtigste Modus der Umverteilung von Reichtum. Nachdem sie in Frankreich vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert von privaten karitativen Werken monopolisiert worden war, wurde die Fürsorge ab den 1880er-Jahren vom republikanischen Staat übernommen. Dieser verankerte allerdings, im Bewusstsein seiner Grenzen und wenig erpicht ein allgemeines Recht auf Unterstützung einzuführen, eine «mixed economy of welfare», in welcher verschiedene Akteure ihr Tätigkeitsfeld fanden, und die bis heute wirkungsmächtig ist. Dieser Artikel zielt darauf hin, die Entwicklungen der Fürsorge in Frankreich seit 1945 nachzuzeichnen und zu verstehen: Was sind die Logiken der Umverteilung? Wer prägte sie und weshalb? Wer sind die avisierten Zielgruppen? Kann die Fürsorge gegenüber der Sozialversicherung überhaupt als eine effiziente Form der sozialen Umverteilung erscheinen? Drei Zeitphasen lassen sich unterscheiden. Von 1945 bis 1956 erlebte die französische Fürsorge auf der Ebene der privaten Werke eine tief greifende Erneuerung, blieb dagegen im staatlichen Bereich bescheiden. Wie seit den 1880er Jahren trat die Umverteilung in erster Linie kompensatorisch in Erscheinung: Für Personen, die sowohl gesundheitlich als sozial vulnerabel waren. Von 1956 bis 1975 ging es nicht mehr so sehr darum, die Armut zu bekämpfen als vielmehr sozial Randständige zu integrieren: Menschen mit Behinderung, Migranten, Menschen in mangelhaften Unterkünften, Arbeitslose und Jugendliche. Die Umverteilung zielte auf eine (Re-)Integration. Seit 1975 schliesslich vervielfältigen sich die Massnahmen der Sozialhilfe; sie zeigen sich zugleich präventiv und kurativ und zielen darauf hin, die Opfer der Wirtschaftskrise im Zentrum der Gesellschaft zu erhalten.

Erschienen in: traverse 2015/1, S. 107