War der Totschlag ein Verbrechen? Ehre und Gewalt in Frankreich im 14. und 15. Jahrhundert

(L'homicide est-il un crime? Honneur et violence en France aux XlVe et XVe siècles)

Der Totschlag im Mittelalter ist nur schwer fassbar. Seine Definition entsprach nicht genau derjenigen des modernen Strafrechts; er bezeichnete den mehr oder weniger zufälligen, aber nicht seltenen Tod im Gefolge einer nach den Regeln der Ehre und Rache verlaufenden Auseinandersetzung, die mit einem verbal ausgetragenen Streit beginnen und über die Schlägerei zum Totschlag führen konnte. Im 14. und 15. Jahrhundert war diese Form der Gewalt in Frankreich noch sehr verbreitet. Sie scheint für die Zeitgenossen nicht weiter von Bedeutung gewesen zu sein, sie betrachteten sie nicht einmal als «fait divers» [«vermischte Meldungen»]. Totschläge hatten keinen Nachrichten- und Erinnerungswert und wurden daher auch in Quellen wie Chroniken und Tagebüchern nicht erwähnt. Auch der König war ohne weiteres bereit, die Täter zu begnadigen. Voraussetzung war allerdings, dass die Tat nicht vorsätzlich begangen worden war. Ferner mussten weitere Beteiligte rechtfertigen können, dass sie demjenigen geholfen hatten, der bedroht war und sich auf legitime Art und Weise verteidigt hatte. Hilfe durften im Prinzip nur Freunde und Verwandte der Kontrahenten leisten. Der Totschlag unterschied sich also vom vorsätzlich begangenen Mord, der immer auch mit Verrat, Hinterlist und Verstoss gegen die Regeln der Rache verbunden war; ausserdem waren beim Mord weder Öffentlichkeit, regelkonforme Herausforderung noch Gleichheit der Gegner gegeben.
Als einzige Quelle erlaubt die kontinuierliche Serie von «lettres de remission» (Begnadigungsbriefen), die von der königlichen Kanzlei erlassen wurden, die Art der Gewalt im Fall von Totschlägen genauer zu umreissen. Sie war in allen sozialen Schichten und in allen Regionen Frankreichs verbreitet. Die Protagonisten stammten aus dem eng beschränkten Umkreis der Wohnorte der Kontrahenten, wo jede/r jede/n kannte. Im gleichen Bereich spielte sich auch die Ehre der Männer ab, die in erster Linie die Ehre der Frauen rund um die Männer war: Mütter, Ehefrauen, Töchter und Schwestern. Da eng mit den Regeln der Ehre und mit dem Bemühen um die Aufrechterhaltung eines guten Rufs verbunden, folgten die Auseinandersetzungen einem genau vorgegebenen Ablauf, an dessen Ende der Tod eines der Kontrahenten stehen konnte. Auf Beschimpfung und Herausforderung folgten das Abstreiten und die Verteidigung, ebenfalls in Form von Worten oder Gebärden. Die Gesten führten zur Rauferei, die «Verbündeten» der Beteiligten tauchten auf, die Schlägerei konnte Verletzungen und mitunter eben auch Tote zur Folge haben. In dieser Form galt der Totschlag als leichtes Vergehen, u. U. sogar als ein «beau fait», als eine gute, weil legitime Tat, die dazu diente, verletzte Ehre zu rächen, bei Adligen wie Nicht-Adligen. Die Kriminalisierung des Totschlags erfolgte daher eher spät, da das menschliche Leben in dieser Gesellschaft keinen Wert mehr hatte, wenn jemand in seiner Ehre gekränkt war. Der König, der diese gesellschaftlichen Werte teilte, versuchte lediglich, den Auseinandersetzungen ein Ende zu setzen und Frieden zu gebieten.

Erschienen in: traverse 1995/1, S. 59