Wagemutige Philosophie. Descartes, die Epilepsie und das Glücksspiel in der Frühen Neuzeit

(Philosophy at Risk. Early Modern Epilepsy, Gambling, and Descartes)

Was ist die geheimnisvolle Verbindung zwischen der Einsamkeit der Wüste und dem Glücksspiel? Eine Antwort auf diese Frage könnte einen neuen Zugang zur Rolle von Descartes bei der Entstehung der Wahrscheinlichkeitstheorie und damit indirekt in der Geschichte des Risikos ermöglichen. Wenn Ian Hackings bahnbrechende Untersuchung The Emergence of Probability weiterentwickelt wird, lassen sich zwei wichtige Details in der Genealogie des Probabilitätskonzepts erkennen: die zentrale Bedeutung der Debatten um die Ursachen der Epilepsie in der frühmodernen Medizin im Rahmen der Erörterungen um die Eigenschaften von Körper und Geist und der Ausbruch einer virtuellen Glückspielpandemie in Europa, die zu Spekulationsblasen führte. Epilepsie wurde seit Hippokrates mit Einsamkeit assoziiert. In der Frühmoderne wurde die Krankheit nach der Lektüre des (pseudo)aristotelischen Werks Problemata allgemein mit Geistesgrösse und speziell mit der Möglichkeit der Prophetie in Verbindung gebracht. In der Problemata wurde das Bild des einsamen Epileptikers wiederum mit dem des Glückspielers verknüpft. Descartes erteilte Zeit seines Lebens medizinische Ratschläge, ohne Epilepsie auszuschliessen. Um seinen (metaphysischen) Empfehlungen mehr Gewicht zu verleihen, verwies er auf sein Glück als Spieler, das er einem Daimon verdanke. Tatsächlich nahm er für sich die Fähigkeit der Prophetie in Anspruch, womit er sich in gewisser Weise in eine Reihe mit Sokrates stellte, der in der Problemata in einer Liste mit berühmten Epileptikern aufgeführt wird. Weil Descartes die Gabe der Prophetie besass – oder zumindest zu besitzen glaubte –, erteilte er (im Privaten) für Philosophen wagemutige Ratschläge.

Erschienen in: traverse 2014/3, S. 49