Kein Landesstreik im Tessin? Die Gründe eines partiellen Scheiterns

(Point de Grève générale au Tessin? Les raisons d’un échec partiel)

Im landwirtschaftlich geprägten Tessin nahm nur ein sehr beschränkter Teil der 30 000 im Industrie- und Transportsektor Beschäftigten am Landesstreik teil : die Eisenbahner zwischen Airolo und Bellinzona, die Metallarbeiter von Bodio und die Steinhauer in der Umgebung von Biasca. Es ist nicht einfach zu erklären, weshalb die Beteiligung so schwach ausfiel. Die Leitungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie versuchten sie von Anfang an mit der mangelhaften Kommunikation mit dem Oltener Aktionskomitee zu erklären. Ausserdem prangerten sie die Aggressivität der Presse an, die die Bolschewiki beschuldigte, auf Befehl Moskaus einen Rettungsversuch für Deutschland zu unternehmen.
Grundsätzlich sei aber alles bereit für einen Streik gewesen. Historiker, die danach fragten, was die Mobilisation der Arbeiter behindert habe, führten in erster Linie an, dass die Basis dem Streik ablehnend gegenüberstand, weil sie die öffentliche Reaktion fürchtete und weder den gewählten Zeitpunkt noch die Ziele der Bewegung verstand. Ein « politischer » Streik konnte von einem verstreut lebenden, heterogenen und oft unorganisierten Proletariat nicht verstanden werden. Schliesslich konnten die Abwesenheit des Gewerkschaftssekretärs Canevascini und das Zögern anderer Gewerkschaftsführer die Verwirrung nur
noch steigern. Neuentdeckte Quellen erlauben allerdings, diese Interpretationen zu nuancieren.

Erschienen in: traverse 2018/2, S. 275