Für eine europäische Geschichte der Schweiz

(Pour une histoire européenne de la Suisse)

Nationale oder, noch schlimmer, vaterländische Geschichte ist eine Falle. In einer aus dem Innern eines Landes heraus organisierten Historiographie wird der Einzelfall, das Besondere und Individuelle, in unzulässiger Weise auf Kosten übergreifender Räume und Strukturen bevorzugt. Dabei wird in der Regel ausgeblendet, was gerade überhaupt erst den Sinn von Geschichte ausmacht: die in den zeitlichen Ablauf eingeflossenen grösseren Interaktionen und Zusammenhänge, dank denen eine lokale Erscheinung erst eigentlich situiert, beschrieben und erklärt werden kann. In Ermangelung kognitiver Referenzen bedient sich dann die Innensicht mit Vorliebe «sinnstiftender» Mythen. Um sich solchen Zwängen zu entzeihen, scheint es mir unumgänglich, die Geschichte der Schweiz wieder vermehrt aus europäischer Sicht, d.h. von aussen her, aufzubauen.
In diesem Sinne setzt sich dieser Beitrag zum Ziel, einige dieser äussern Geschichtsfelder und die entsprechenden Aussenbestimmungen der Schweiz aufzuzeigen. Will man allerdings von Staatenbildung sprechen, so muss man das legendäre 13. oder 14. Jahrhundert ein wenig zur Seite stellen. Es sind vielmehr zuerst der Burgunderkrieg und die Auseinandersetzungen in Italien ins Auge zu fassen. Und in Bezug auf die Ausgestaltung innenpolitischer und verfassungsmässiger Ansätze spielten nicht die zahlreichen innern Bünde, sondern beispielsweise die Allianz mit Frankreich aus dem Jahre 1521 die entscheidende Rolle. In ähnlicher Weise gaben die übergreifende Glaubenstrennung, der Westphälische Friede von 1648 oder die internationalen Verhandlungen am Ende der napoleonischen Aera dem helvetischen Raum seine staatliche Identität. Ähnlich prägende Phasen erlebte die Schweiz im Ersten Weltkrieg, während der Eingliederung in den nationalsozialistischen Wirtschaftsraum und in der nachfolgenden Adaptation an die atlantische Allianz. Gleichzeitig verfestigten sich, gefördert durch wirtschaftliche und handelspolitische Integration, die vielfältigen äussern Abhängigkeiten. Insbesondere im Rahmen der Wirtschaftsgeschichte wird die nationale Perspektive obsolet. Schon nur die hohe Auslandsquote des Handels erfordert einen erweiterten Blickwinkel. Und Martin Kömer stellt zu Recht die Frage: «Ist es überhaupt zulässig, die Schweiz als eigenen Wirtschaftsraum zu bezeichnen?» (Anm. 29).
Dieselbe Frage muss man sich ebenfalls in Bezug auf sozialgeschichtliche Ansätze stellen. Die Korrektur des nationalen Blickwinkels drängt sich auch in andern Bereichen, wie beispielsweise der Geschichte der Arbeiterbewegung, auf. Hier hatte die traditionelle Sichtweise eine sinnentstellende Einschränkung zur Folge, indem Konzepte wie Klassenkampf und proletarische Existenz einem spezifisch schweizerischen Geist untergeordnet wurden. Doch geradezu paradox wird die Lage, wenn nach «schweizerischer» Kunst Ausschau gehalten wird. Denn diese, in der Regel in den Kunstmetropolen des Auslandes angesiedelt, vermag im nationalen Sinne bestenfalls folkloristische Sujets oder die unvermeidlichen Alpen aufzugreifen. Diese Begrenzung führte u.a. dazu, dass schweizerische Kunst lange Zeit mit hodlerischen Berg- und Teildarstellungen gleichgesetzt wurde.
Eine den nationalen Standpunkt, d.h. das Sonderfall-Denken vernachlässigende Geschichtsschreibung brächte den Vorteil, dank international vergleichenden Studien ihr wissenschaftliches Niveau zu verbessern. Der vorliegende Aufsatz zeigt vorerst nur, dass die europäische, d.h. die äussere Dimensione den entscheidenden Kontext der schweizerischen Geschichte bildet. Eine Einschränkung der traditionelle Innenansicht unserer Geschichte würde nicht nur ein realeres Bild der Vergangenheit vermitteln, sondern auch die Anwendung modemer historischer Methoden erleichtern. Deshalb ist es an der Zeit, eine europäische Geschichte der Schweiz zu erarbeiten.

Erschienen in: traverse 1994/3, S. 19