Erschütterungsmesser dienen in dieser Fallstudie über die Schweizer Erdbebenüberwachung (1878 bis ca. 1975) als «materieller» Zugang zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und Risikokultur. Die als Ausgangspunkt gewählte Betrachtung des Risikobegriffs als Diskurs erlaubt einerseits eine Neuperspektivierung der schweizerischen Erdbebenforschung. Andererseits bieten die seismologischen Instrumente einen verdichteten Zugriffspunkt auf konkrete Praktiken, dessen Aussagekraft über die wissenschaftliche Sphäre hinausreicht: die Instrumente erweisen sich als Seismographen der Risikokultur ihrer Zeit.
Im Zuge von Technisierung, Spezialisierung und Institutionalisierung verloren sich im Laufe des 20 Jahrhunderts die Anknüpfungspunkte zwischen Seismologie und gesellschaftlicher Risikodebatte. Dies änderte sich erst in den 1960er- und 1970er-Jahren allmählich, als im Zusammenspiel von konkreten Ereignissen und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit kritischen Infrastrukturen das Risikobewusstsein geschärft wurde.. Die Fallstudie zeigt, dass der Prozess des Auseinanderdriftens wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse in der Schweiz ebenfalls stattfand, jedoch später und weniger ausgeprägt als andernorts. Über die Messmethodik wurde stattdessen ein Fokus auf die lokalen Verhältnisse geschaffen, innerhalb dessen konkrete Risikodiskurse wirksam werden konnten – wenn auch zuweilen andere als man zunächst erwarten würde.
Seismografen der Risikokultur. Ein Jahrhundert der Erdbebenüberwachung in der Schweiz
Erschienen in: traverse 2014/3, S. 83