Beziehungsgeflechte und Unternehmensstrategien. War der Handel mit den Kolonien ein wichtiger Beitrag für die Entwicklung der Neuenburger Industrien in der zweiten Hälfte des 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert?

(Tissus relationnels et stratégies entrepreneuriales. Le commerce colonial a-t-il été un apport important pour les industries neuchâteloises de la seconde moitié du XVIIIe siècle et du début du XIXe?)

In der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts existieren im Fürstentum Neuenburg drei wichtige Industriezweige (die Spitzenklöppelei, die Indiennedruckerei und das Uhrengewerbe).
Das Ziel dieses Artikels besteht darin, die Art und das Gewicht der Beziehungen zwischen den NeuenburgerUnternehmern und den aussereuropäischen Gebieten zu erfassen und die Rolle dieses Austauschs für die Entwicklung der Industrie dieses Staates zu untersuchen. Es soll auch überprüft werden, ob für den Fall Neuenburg folgende Aussage von P. Kriedte zutrifft: «The world market which was slowly coming into existence acted as the engine of proto-industrial growth» (Peter Kriedte, Peasants, Landlords and Merchant capitalists: Europe and the world economy, 1500-1800, Leamington 1983, 13).
Um die Beziehungen zwischen den Neuenburger Unternehmern und den aussereuropäischen Gebieten sichtbar zu machen, sind drei Fragen untersucht worden:
– Existieren verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Kolonialwarenhändlern und den Fabrikanten?
– Wird während einer beruflichen Karriere vom Industrie- zum Handelssektor und/oder zu demjenigen der internationalen Finanz gewechselt?
– Exportieren die Unternehmer ihre Produkte in die aussereuropäischen Gebiete und importieren sie Kolonialwaren? Wenn ja, welchen Stellenwert nehmen die Kolonialmärkte in ihren Geschäften ein?
Für diese Untersuchung wurden fünf Firmenarchive von Uhrenunternehmen ausgewertet und eine prosopographische Erhebung auf der Basis von Personenstandsangaben durchgeführt. Die prosopographische Analyse macht deutlich, dass zwischen den Neuenburger Unternehmerfamilien, und zwar sowohl bei den Indienne- als auch den Uhren- und den Spitzenproduzenten, zahlreiche Verwandtschaftsbeziehungen bestehen.
Im weiteren zeigt diese Untersuchung, dass mehrere Personen vom Industriesektor zum Handels- oder Finanzsektor gewechselt haben. In der Praxis ist es schwierig, klare Grenzen zwischen den drei Bereichen zu ziehen, und es geht eher darum festzuhalten, welcher Sektor der wichtigste von den dreien ist.
Die dritte Frage schliesslich ist in Abhängigkeit von der Grösse des Unternehmens zu beantworten. Die untersuchten Quellen zeigen wider Erwarten, dass die aussereuropäischen Absatzmärkte und der Import von Kolonialwaren bei den kleinen und mittleren Uhrenunternehmen eine grundlegende Rolle spielen, während sie bei den grossen Unternehmen sekundär sind.
Die Neuenburger haben demnach ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begonnen, eine globale Wirtschaft zu betreiben. In der Folge hing das wirtschaftliche Wachstum des Fürstentums nicht mehr bloss von lokalen Faktoren ab, sondern auch von internationalen.

(Übersetzung: Corinne Gürcan)

Erschienen in: traverse 1998/2, S. 29