Ein Beitrag von Michèle Steiner und Christine Zürcher
Am 5. Juni 1702 notierte die Sœur économe, die Wirtschafterin des Solothurner Klosters Visitation, im Rechnungsbuch die Einnahme von 602 Pfund «Resu en charitez de nos soeur, et de quelque personne, pour nostre soleille» sowie die Ausgabe von «doeux cant soixante fran pour nr soleille».1
Weitere Hinweise zu diesem Objekt finden sich in den Annalen derselben Klostergemeinschaft. Dort ist im Nachruf auf die 1711 verstorbene «Sœur Marie Hélène Elisabeth Vallier de St. Aubin» nachzulesen, dass die Schwester «nous fit faire un beau Soleil d’argent doré, enrichi de pierreries et d’ouvrages émaillés qui représentent la Passion de Notre Seigneur. C’est un chef d’oeuvre, estimé des meilleurs connaisseurs et un don précieux provenant de la libéralité de plusieurs personnes charitables, dévouées à notre Communauté».2
Die hier bezeichnete Strahlenmonstranz entstand im Auftrag der damaligen Klostervorsteherin Sr. Marie Hélène Elisabeth Wallier (1651–1711) und wurde von mehreren Schwestern des Klosters Visitation sowie deren Eltern gemeinschaftlich gestiftet.3
Sie befindet sich noch heute an ihrem ursprünglichen Aufbewahrungs- und Nutzungsort in der inneren Sakristei des Klosters und konnte im Rahmen eines Inventarisierungs- und Publikationsprojekts zu den Sakralbauten der Stadt Solothurn 2010 erstmals erfasst und in einem beschreibenden Verzeichnis dokumentiert werden.4 Während die eingangs zitierten Schriftquellen etwas über Entstehungszeit, Finanzierung und Auftraggeberin aussagen und auf einige der verwendeten Materialien wie vergoldetes Silber, Steinbesatz und Emailarbeiten hinweisen, lässt sich die Autorschaft dagegen einzig mittels der am Objekt selbst eingeprägten, qualitätsbezeugenden Beschau- sowie Meisterzeichen bestimmen. Diese weisen die Monstranz als ein Werk des Solothurner Goldschmieden Johann Heinrich Büeler (1647–1733) aus.5
Die 92 Zentimeter hohe Hostienmonstranz präsentiert sich als überaus reich gestaltetes Werk. Der gestufte, querovale Vierpassfuss über mehrfach profiliertem Standring zeigt getriebenes Rankenwerk, vier Engelsfiguren und geflügelte Engelsköpfe sowie vier von Amethysten gefasste Emailmedaillons mit Darstellung der Evangelisten. Als flügellose Engelsfigur konzipiert, trägt der Schaft ein herzförmiges, von einem Strahlenkranz umfasstes, mit Steinen geziertes und von einer Bügelkrone überhöhtes Ostensorium, das Hostiengehäuse. Ebenfalls in der Mittelachse ist unterhalb des Ostensoriums die Darstellung des Pelikans, der sich die Brust aufpickt, um seine Jungen mit seinem eigenen Blut zu füttern, angeordnet – ein Symbol und Sinnbild für den Opfertod Christi und dessen Auferstehung. Die reiche Zier des doppelten Strahlenkranzes zeigt durchbrochen gearbeitetes Rankenwerk, in das zwölf Putten mit verschiedenen Leidenswerkzeugen und liturgischen Geräten sowie sechs von Rubinen und feinen Blütenranken gerahmte Emailmedaillons mit Szenen der Passion Christi geschraubt sind. Der Strahlenkranz wird von der Büstenfigur Gottvaters und der Heiliggeisttaube bekrönt sowie von einem Kreuz mit Steinbesatz überhöht. Das ikonographische Programm des Figuren- und Bilderschmucks steht der Funktion der Monstranz entsprechend ganz im Zeichen der Passion, des Opfertodes und der Auferstehung Christi.
Die für ihre Zeit in jeder Hinsicht charakteristische Hostienmonstranz bringt im durchkomponierten Zusammenspiel und in der differenzierten Bearbeitung kostbarster Materialien, symbolisch zu deutender Formen und Farben sowie dem ikonographischen Bildprogramm ihre Bedeutung als liturgisches Schaugefäss für die feierliche Ausstellung der heiligen Hostie in der katholischen Eucharistie wirkungsvoll zum Ausdruck. Die Monstranz ist effektvoller Blickpunkt, Zentrum und Höhepunkt der liturgischen Handlung. Das höchst qualitätsvolle Werk zeugt ebenso von der liturgischen Praxis in der Zeit der katholischen Reform, vom Stiftungswillen der Klosterfrauen und den ihr Zugewandten wie auch von der Meisterschaft des Goldschmieden Johann Heinrich Büelers. Im noch wenig erforschten Leben und Werk Büelers ist sie eine von drei heute noch erhaltenen Hostienmonstranzen.6
Die hier präsentierte Strahlenmonstranz ist nur eine von zahlreichen Kostbarkeiten aus dem Klosterschatz der Solothurner Visitandinnengemeinschaft. Als Teil dieser seit der Niederlassung der Schwestern in Solothurn 1645 gewachsenen Sammlung verweist die Monstranz auf die Funktion von Klöstern als wertvolle Objektarchive. Diese materiellen Archive stellen für Kunsthistorikerinnen und Historiker veritable Schatzkammern dar, bieten sie doch Quellenmaterial für die Beantwortung einer Vielzahl von Forschungsfragen. Indem diese Objektarchive durch ihre Schätze die weite Welt auf kleinstem Raum vereinen, lassen sie (Kunst-)Historiker:innen an der Einbindung von klösterlichen Gemeinschaften in transregionalen Räumen teilhaben.
Gleichzeitig kann die Arbeit in und mit solchen Objektarchiven (Kunst-)Historiker:innen vor Herausforderungen stellen. So ist erstens die Zugänglichkeit der Objekte nicht immer gegeben. Auch wenn viele liturgische Stiftungen heute Teil öffentlicher Museumssammlungen sind, befinden sich zahlreiche Objekte noch in den Klostergemeinschaften selbst. Unzählige Kirchenschätze mussten zudem aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen, Diebstähle oder Klosteraufhebungen in den letzten 250 Jahren zum Teil umfassende und nicht immer klar dokumentierte Abgänge verzeichnen. Die Ein- und Zuordnung der Objekte erfordert des Weiteren viel Fachwissen. Zwar verweisen Quellen aus klösterlichen und kirchlichen Archiven häufig auf Stiftungen und Vergabungen in ihre Institutionen, aufgrund der oben beschriebenen Abgänge ist es jedoch nicht immer einfach, die teilweise sehr kurz gehaltenen Einträge in den Quellen mit Objekten in den Sammlungen zu verbinden. Schliesslich verfügen Objekte in Klosterschätzen häufig über eine lange Nutzungsdauer von mehreren Jahrhunderten und wurden im Laufe der Zeit beschädigt, repariert oder anderweitig künstlerisch verändert, was die Zuordnung ebenfalls erschweren kann. Trotz dieser Hindernisse und Herausforderungen sind gerade auch Historiker:innen geraten, materielle Zeugnisse liturgischer Praktiken in ihre Recherchen einzubeziehen.
Solothurn besitzt einen qualitativ hochstehenden, stadtbildprägenden Bestand von Kirchen, Klöstern und Kapellen, zu denen eindrucksvolle Ausstattungen mit Altären, Gemälden, Skulpturen, Glocken, Orgeln, Glasmalereien, liturgischen Gerätschaften, Paramenten und Möbeln gehören. Die solothurnische Sakraltopografie hat ihren Ursprung im frühen Mittelalter, geht in ihrer heutigen Gestalt jedoch hauptsächlich auf die bauintensivste Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts sowie des ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1965 zurück. Mit ihren architektur- und kunsthistorisch qualitätsvollen Bauten und Ausstattungen ist die Sakraltopografie ein gewichtiger Teil des weit über die Stadtgrenzen ausstrahlenden kulturellen Erbes Solothurns. Sie umspannt auf engstem Raum praktisch alle grossen Epochen der Baukunst vom Mittelalter bis zur Nachkriegsmoderne und zeugt von einem vielschichtigen Kulturtransfer aus deutschen, französischen und italienischen Architektur- und Kunstlandschaften.
Die (kunst-)historische Forschung beschreibt Sakrallandschaften7 als Räume, die nicht nur grössere Sakralbauten wie stattliche Pfarrkirchen und prunkvolle Kapellen, sondern auch «Kleindenkmäler» wie etwa Wegkreuze, Bildstöcke, nicht begehbare Miniaturkapellen, Statuennischen an Hauswänden und Malereien an Fassaden umfasst. Letztere seien nach Peter Hersche häufig als Folge freiwilliger Stiftungen auf Initiative «von unten» entstanden und deshalb von Kirchenoberen nicht selten kritisch beäugt worden.8 Mit dem spatial turn und einer intensivierten Diskussion von Raumkonzepten einher ging die Beschreibung von Sakrallandschaften als «sacred space[s]».9 Dabei werden nicht nur Baudenkmäler, sondern auch der Raum zwischen baulichen Objekten untersucht und der Blick auf Praktiken und Handlungen geworfen, die sich um, an und mit Mobilien und Immobilien vollziehen.10 Dazu gehört nicht nur der Blick auf die visuelle Dimension des Sakralraums, sondern auch deren akustische Komponente sowie der Einbezug des Faktors Geschlecht, im Sinne eines «gendered sacred space».11
Der Blick auf den sakralen Raum und die darin vollzogenen Praktiken macht auch Akteur:innen sichtbar – neben Vertreter:innen der Kirche wie Gemeindepfarrern oder Klosterfrauen sind hier etwa Mitglieder der städtischen und ländlichen Eliten zu nennen. Als emsige Sitfter:innen liturgischer Objekte an kirchliche Institutionen, insbesondere auch an Frauenklöster, haben die Eliten solche Sakrallandschaften massgeblich mitgestaltet. Wie die eingangs präsentierte Strahlenmonstranz zeigt, haben zahlreiche dieser häufig sehr prunkvollen liturgischen Kunstschätze bis heute überlebt und vermitteln uns einen Eindruck der Dimensionen frühneuzeitlicher Stiftungspraktiken.
Wollen wir heute verstehen, wie Sakrallandschaften gelebt wurden, wie Menschen mit diesen sakralen Räumen interagierten, wie Klostergemeinschaften und andere religiöse Institutionen mit der Stadtgesellschaft verbunden waren, und welche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen diese Verbindungen hatten, ist es unerlässlich, sich den Klöstern und kirchlichen Institutionen als Objektarchiven zuzuwenden. Als häufig integraler Bestandteil von religiösen Praktiken wirken die in diesen Archiven gelagerten Kunstschätze über sich hinaus – neben einer religiösen Bedeutung als Medien des Heils weisen sie eine soziale Dimension auf, indem sie Familien (insbesondere der städtischen und ländlichen Eliten) eine Einschreibung in die Sakrallandschaft ermöglichten. Sie sind zudem wertvolle Zeugnisse eines historischen Handwerks und Teil einer Werkbiografie. Vielfach noch gänzlich unerforscht, verfügen sowohl die einzelnen Objekte als auch die kirchlichen Sammlungen über ein enormes Forschungspotenzial.
SO [Solothurn], KlA V [Klosterarchiv Visitation], Aa6, Rechnungsbuch 1645–1823. ↩︎
SO, KlA V, A2, Fondation et Annales 9,2, 1870, 21. ↩︎
Johanna Strübin, Christine Zürcher, Die Stadt Solothurn III. Sakralbauten (Die Kunstdenkmäler des Kantons Solothurn, IV), Bern 2017, 303. Die Aussage, wonach die Klostervorsteherin und ihre Eltern als alleinige Stifter der Monstranz verstanden werden (316), ist entsprechend zu korrigieren. ↩︎
Für Solothurner Goldschmiedezeichen siehe: Gottlieb Loertscher, Die Bezirke Thal, Thierstein und Dorneck (Die Kunstdenkmäler des Kantons Solothurn, III), Bern 1957, 442. Zu Büeler (Bieler): Hugo Dietschi, Solothurner Künstlerlexikon, Typoskript KDSO, 1940; Erich Meyer, «Hans Jakob Büeler und seine zwei Regimenter im Türkenkrieg 1652–1664», in Jahrbuch für Solothurnische Geschichte 70 (1997), 51f., 55; Erich Meyer, «Büeler (SO)», Historisches Lexikon der Schweiz Online, 31.08.2004, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/042962/2004-08-31/ (25.07.2024). ↩︎
Strübin, Zürcher (wie Anm. 3), 399, Abb. 447; Josef Grünenfelder, Das ehemalige äussere Amt (Die Kunstdenkmäler des Kantons Zug. Neue Ausgabe, I), Bern 1999, 332. ↩︎
Der Begriff «Sakrallandschaft» wurde bereits 1937 von Georg Schreiber verwendet: Georg Schreiber, Die Sakrallandschaft des Abendlandes mit besonderer Berücksichtigung von Pyrenäen, Rhein und Donau, Düsseldorf 1937. ↩︎
Peter Hersche, Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg im Br. 2006, 557f. ↩︎
Will Coster, Andrew Spicer, «Introduction. The Dimensions of Sacred Space in Reformation Europe», in Will Coster (Hg.), Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, 1–16, hier 4. ↩︎
Vgl. etwa Gerrit Jasper Schenk, «Religion und Politik. Die westeuropäische Stadt als ‹sakraler Handlungsraum› in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Eine Skizze», in: Elisabeth Gruber et al. (Hg.), Städte im lateinischen Westen und im griechischen Osten zwischen Spätantike und Früher Neuzeit. Topographie – Recht – Religion (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 66), Wien 2016, 273–299, hier 282. ↩︎
Die weltweiten Universitätsproteste haben in der Schweiz und im Ausland unterschiedlichste Reaktionen ausgelöst. Für mich als Studentin ist unverständlich, mit welcher Vehemenz und Kompromisslosigkeit den beiden Universitätsbesetzungen in Bern vom 12. bis 15. und vom 30. Mai durch die Universitätsleitung begegnet wurde. Statt sich auf einen Dialog mit den Besetzenden einzulassen, lehnte die Universitätsleitung jegliche Diskussion ab, stellte die Protestierenden in ihren Medienmitteilungen als gefährlich, antisemitisch und handgreiflich dar und begegnete den friedlichen Besetzungen mit polizeilicher Räumung und anschliessenden Kontrollen durch einen Sicherheitsdienst. Das repressive Vorgehen sowie die einseitige Darstellung der Abläufe seitens der Universitätsleitung haben einen Dialog auf Augenhöhe verunmöglicht und sind vom Vorstand der Studierendenschaft zu Recht als unangemessen kritisiert worden.
Einem friedlichen Studierendenprotest mit fehlender Dialogbereitschaft und polizeilichem Zwang zu begegnen, sendet eine klare Botschaft: Zivilgesellschaftliches Engagement und kritisches Denken sind unerwünscht. Besonders bei der zweiten Besetzung, die von vorneherein klar als zeitlich begrenzte, eintägige Aktion kommuniziert worden war, stand der durch die Universitätsleitung angeordnete Polizeieinsatz in keinem Verhältnis zum Protest und lässt sich als Einschüchterungsversuch deuten. Es erstaunt nicht, wenn dieses Vorgehen auf viele Studierende und Universitätsmitarbeitende verunsichernd wirkt, und ist insbesondere problematisch in einem Klima, in dem Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit zunehmen.
Die Studierendenproteste sind in Medien und Öffentlichkeit teilweise scharf angegriffen worden. Wenn auch pauschale Antisemitismus- und Gewaltvorwürfe zu kurz greifen, gibt es durchaus Aspekte, die kritisch gesehen werden können. So scheint etwa der Anspruch des Protests, für die Wissenschaftsfreiheit einzustehen, nur schwer vereinbar mit den Forderungen nach einem wissenschaftlichen Boykott – zumindest, wenn dieser Anspruch absolut verstanden wird. Der Nutzen akademischer Boykotte zur Durchsetzung politischer Anliegen ist zudem umstritten; es gibt Hinweise, dass der akademische Boykott Südafrikas nur einen geringen Beitrag für das Ende der Apartheid geleistet hat.[1] Andererseits hat die israelische Anthropologin Maya Wind argumentiert, dass die israelischen Universitäten nicht nur an der Waffenentwicklung, sondern auch aktiv an der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung beteiligt sind und deren akademische Freiheit massiv beschränken: unter anderem, indem Palästinenser:innen der Zugang zu universitärer Bildung erschwert oder verunmöglicht wird, indem israelische Universitäten sich an der militärischen Ausbildung und an der Waffenentwicklung beteiligen oder rechtswissenschaftliche Argumente entwickeln, die die Tötung palästinensischer Zivilpersonen rechtfertigen sollen.[2] Die Zerbombung sämtlicher palästinensischer Universitäten durch die israelische Armee hat universitäres Leben in Palästina verunmöglicht. Wind bezeichnet die systematische Zerstörung des palästinensischen Bildungssystems übereinstimmend mit UNO-Expert:innen als «Scholastizid» und spricht sich für einen Boykott aus.
Wie zielführend die Boykottforderungen für das Anliegen eines Stopps der Gewalthandlungen sind, sei hier dahingestellt. Unabhängig vom genauen Inhalt der Protestforderungen und den gewählten Mitteln zwecks ihrer Umsetzung zeigen die schweizweiten Universitätsbesetzungen aber vor allem eines: Es gibt ein offenkundiges Bedürfnis in der Studierendenschaft, auf die Verstösse gegen Menschenrechte und internationales Recht im Gazakrieg aufmerksam zu machen und für ein Ende der Gewalthandlungen einzutreten.
Dieses humanitäre Anliegen ist grundsätzlich legitim und sollte gehört werden – auch an der Universität. Die Universität ist für Studierende ein politischer Ort, auch wenn der ehemalige Rektor Christian Leumann dies bestritten hat. Viele Studierende haben an der Universität ein Umfeld, in dem sie mit anderen über politische Themen diskutieren und die eigene politische Haltung schärfen und überdenken. Zudem sind die Universitäten in einen gesellschaftlichen Rahmen eingebettet, etwa indem Wissenschaftler:innen die Politik beraten. Die Universität Bern bekennt sich zudem in ihrem Leitbild zur «ethische[n] Verantwortung» ihrer Forschung gegenüber Mensch und Natur. Dass die Wissenschaft von Politik und Werten nicht vollkommen losgelöst ist, versteht sich insofern von selbst.
Leumanns Aussage, die Universität sei kein politischer Ort, verblüfft ausserdem angesichts der Tatsache, dass die Universität Bern im Februar 2022 ein offizielles Statement von Swissuniversities mitgetragen hat, das den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt hat. Die am Protest beteiligten Studierenden haben zu Recht wiederholt auf diese Widersprüchlichkeit aufmerksam gemacht. Der Hinweis der damaligen Vizerektorin Virginia Richter, die Konfliktlage zwischen Israel und Palästina sei komplexer zu beurteilen als diejenige zwischen Russland und der Ukraine, reicht nicht als Begründung für ein Ausbleiben einer Stellungnahme. Komplexität sollte an einer Bildungsinstitution nicht mit Schweigen begegnet werden.[3] Zudem zeigt das Beispiel der Universität Zürich, dass eine Verurteilung der beidseitigen Gewalthandlungen keine Parteinahme bedeutet.
Die Universität als Ort des gesellschaftlichen Austauschs und der wissenschaftlichen Expertise ist mit den nötigen Mitteln ausgestattet, um auch schwierige Fragen mit politischer Dimension reflektiert zu diskutieren. Komplexe, politisch brisante Vorgänge zu erforschen, erfordert unter anderem transparente und überlegte Methoden, eine sorgfältige Kontextualisierung und die Reflexion der eigenen Standpunkte – bedeutet aber keine aktivistische Handlung. Die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus ist keineswegs neu, sondern gerade in den vergangenen Monaten auch Angehörigen der Universität Bern gestellt worden. Dass diese Frage immer wieder aufkommt, zeigt, dass sie kaum abschliessend zu beantworten ist und die Grenzen zwischen Wissenschaft und Aktivismus immer wieder neu ausgehandelt werden. Da unter den Studierenden offenbar ein Bedürfnis besteht, solche Fragen zu diskutieren, böte es sich an, sie stärker im Studium zu thematisieren, statt sie einer polarisierten medialen Debatte zu überlassen.
Die Universität Bern möchte solchen Fragen mit einer «Arbeitsgruppe Wissenschaftlichkeit» begegnen. Die neue Rektorin Virginia Richter nennt zudem Workshops zum Thema Antisemitismus als Möglichkeit, den Unterschied zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik am Staat Israel zu verdeutlichen. Dass solche Diskussionen über das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Aktivismus an Schweizer Universitäten zunehmend geführt werden sollen, ist grundsätzlich zu begrüssen. Darüber sollte jedoch nicht der Anlass der Proteste aus dem Blick geraten: die Gewalthandlungen im Gazakrieg, die laut dem Internationalen Gerichtshof und führenden Historiker:innen wie dem Genozidforscher Omer Bartov wahrscheinlich einen Genozid an den Palästinenser:innen bedeuten. Das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung sollte nicht zum Anlass genommen werden, um bloss über die Wissenschaftsfreiheit an Schweizer und anderen westlichen Unis zu diskutieren[4] – auch wenn diese Debatte zweifellos wichtig und notwendig ist. Virginia Richter hat gegenüber der Berner Zeitung die Bereitschaft signalisiert, auch solche Fragen zu thematisieren: «Man kann aber darüber reden, wie es in Gaza weitergeht. Viele Universitäten sind zerstört worden. Wie können wir helfen?» Es bleibt zu hoffen, dass diesen Worten Taten folgen.
[1] Lorraine J. Haricombe, F. W. Lancaster, Out in the Cold. Academic Boycotts and the Isolation of South Africa, Arlington 1995.
[2] Maya Wind, Towers of Ivory and Steel. How Israeli Universities Deny Palestinian Freedom, London/New York 2024, 146–157, 56f., 43f.
[3] Vgl. Noam Chomsky, Ilan Pappé, On Palestine, London 2015, 13.
[4] Noam Chomsky, Ilan Pappé, On Palestine, London 2015, 79.
Claire Louise Blaser, Damian Moosbrugger und Lukas Rathjen (ETH Zürich)
Wir, die Autor*innen dieses Beitrags, haben uns in unserer Rolle als Teil des wissenschaftlichen Mittelbaus intensiv mit den Geschehnissen rund um die Protestaktionen der Gruppe «Students for Palestine Zurich» an der ETH Zürich (ETHZ) im Mai und Juni 2024 befasst. Hier möchten wir einen Überblick darüber geben, was an unserer Hochschule in dieser Zeit passiert ist, die Reaktionen der Schulleitung und von repräsentativen Organen der ETHZ auf die Proteste einordnen, sowie abschliessend eine Kritik an der Idee einer politisch neutralen oder «apolitischen» Hochschule vorbringen.
Am 27. Oktober 2023 veröffentlichte die ETHZ eine kurze Pressemitteilung, in der sie ihre «Solidarität mit Menschen im Nahen Osten» ausdrückte – eine nebulöse Mindestformel, die aus unserer Sicht hinter den Erwartungen zurückfiel, die man von einer Institution haben könnte, an der Spitzenforscher*innen sich über internationale Konflikte ‹kluge Gedanken› machen. In dieser Pressemitteilung werden die zivilen Opfer des Hamas-Angriffs auf Israel explizit erwähnt, während die palästinensischen Opfer hinter der humanistischen Rhetorik verschwinden und allenfalls ‹mitgemeint› sind. So blieb sowohl die öffentliche Kommunikation dieser ‹klugen Gedanken› als auch das Sprechen über Palästinenser*innen an anderen hängen, insbesondere den Studierenden.
Im Gegensatz zu anderen Departementen gab es am Architekturdepartement (D-ARCH) der ETHZ früh eine Bereitschaft, sich als Studierende und Forschende in Anbetracht der Eskalierung des Israel-Palästina-Konflikts im Oktober 2023 mit diesem Thema zu beschäftigen. Aus architekturpolitischer Sicht war dabei insbesondere Israels Siedlungspolitik von Interesse. Im Frühling 2024 wurden daraufhin das D-ARCH sowie einzelne dort arbeitende Personen zur Zielscheibe von Angriffen in schweizerischen Leitmedien, die vor Falschinformationen und gezielten Auslassungen nicht zurückschreckten. Die Departements- und Schulleitungen haben in einem internen und einem externen Interview auf diese Anschuldigungen reagiert, ohne jedoch die angegriffenen Mitarbeitenden ausdrücklich zu verteidigen, wie von den Betroffenen später kritisiert wurde.
Statt einer Entschärfung folgte im April eine weitere Zuspitzung der Lage, nachdem eine von Studierenden des D-ARCH geplante Veranstaltung mit dem Architekten und Chefredakteur des Magazins «The Funambulist» Léopold Lambert zum «Siedlerkolonialismus» in Palästina von der Schulleitung abgesagt wurde, weil dieser sich nicht «glaubhaft und genügend explizit von Gewalt distanziert» hätte. Damit liess sich zwar eine politische Diskussion, von der sich die nun unter einem medialen Mikroskop stehende ETHZ um ihrer ‹Neutralität› willen möglichst abgrenzen wollte, für den Moment unterbrechen. Dafür stand nun ein ganz anderes Problem zur Diskussion, nämlich das Vorgehen der Hochschule selbst: Verhielt sich die ETHZ bei diesem Eingriff gemäss ihren selbst propagierten Werten der Meinungs- und Redefreiheit? War es «Zensur», eine solche Veranstaltung abzusagen?
Knapp einen Monat später, am 7. Mai 2024, kam es an der ETHZ zu etwas, das zumindest wir, die Autor*innen dieses Beitrags – die wir seit teils über 10 Jahren an dieser Hochschule arbeiten und studieren – hier noch nie in dieser Form gesehen haben: Protest. Die Gruppe «Students for Palestine», die vor allem aus Studierenden der ETHZ, der Universität Zürich (UZH) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) besteht, versammelte sich gegen Mittag im Hauptgebäude der ETHZ zu einem friedlichen Sitzprotest. Unter dem Motto «No Tech for Genocide» machten sie zeitgleich mit einem gleichgesinnten Protest an der École Polytechnique Fédérale Lausanne (EPFL) auf Kooperationen zwischen der ETHZ und israelischen Institutionen aufmerksam, die sich mit dem Krieg in Gaza in Verbindung bringen liessen. In einem an das Rektorat adressierten Statement forderten sie mit Verweis auf die Handlungen der ETHZ in Bezug auf Russland und die Ukraine eine Positionierung der Hochschule gegen den Genozid in Gaza, einen akademischen Boykotts Israels und Transparenz über Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen. Innert weniger als zwei Stunden machte die ETHZ von ihrem Hausrecht Gebrauch und liess die Polizei den Protest auflösen. 28 Personen wurden des Gebäudes verwiesen und wegen Hausfriedensbruch verzeigt – keine polizeiliche Notwendigkeit, sondern eine bewusste Entscheidung der Schulleitung.
Die meisten Studierenden, insbesondere solche ohne permanente Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, die in der internationalen Studierendenschaft der ETHZ stark vertreten sind, hatten den Protest aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen bereits vor der Auflösung verlassen. Es befanden sich daher nur noch wenige ETHZ-Studierende unter denjenigen, deren Personalien am Ende von der Polizei aufgenommen wurden. Sich entweder dieser Dynamik nicht bewusst oder sie wissentlich ignorierend, behauptete die Schulleitung in einem anschliessenden Statement etwas, das offensichtlich auf eine Delegitimierung der Proteste und eine Legitimierung ihres harten Vorgehens abzielte – nämlich, dass dieser Protest von aussen herbeigeführt worden sei, von «propalästinensischen, marxistischen Gruppierungen». Den eigenen Studierenden traut man eine politische Haltung anscheinend nicht zu, also mussten es «Externe» gewesen sein, die hier den institutionellen Status Quo störten. Am 31. Mai 2024 protestierten die «Students for Palestine» erneut im Hauptgebäude; wieder kam es zur Räumung; wieder kam es zu Anzeigen. Insgesamt hat die ETHZ 40 Strafanträge wegen Hausfriedensbruch gestellt, 9* davon gegen ETHZ-Angehörige.
Bereits einen Tag nach dem ersten Protest lag die offizielle Erklärung der Schulleitung in Form eines Interviews mit dem Vizepräsidenten für Infrastruktur Ulrich Weidmann vor: «Die ETH Zürich ist keine Plattform für politischen Aktivismus». Es sei nicht die Aufgabe der Hochschule, politisch Position zu beziehen und ein akademischer Boykott sei nicht zu vereinbaren mit dem Prinzip der Wissenschaftsfreiheit. Hinzu komme, dass dieser Protest von anderen Studierenden als «bedrohlich empfunden» werden könne, so Weidmann. Fraglich bleibt, ob Polizeieinsätze, Identitätskontrollen und Verhaftungen auf dem Hochschulgelände als weniger «bedrohlich empfunden» werden und wirklich allen ETHZ-Angehörigen das Gefühl geben, «auf dem Campus willkommen» zu sein. Am Dialog aber wolle man festhalten – versicherte der Vizepräsident und liess einen Protest, der aufgrund seiner Grösse nicht einmal im Namen der Brandschutzordnung ein Problem hätte darstellen können, polizeilich auflösen. Vielleicht hatte die Schulleitung an diesem Tag einfach keine Termine mehr frei für «Dialog»?
Schlussendlich warf dieses öffentliche Statement, in dem sich die Schulleitung für ihre repressiven Handlungen zu rechtfertigen versuchte, mehr Fragen auf als es beantwortete. Entsprechend fielen die Reaktionen bei ETHZ-Mitarbeitenden und Studierenden aus, die nun in grösserer Zahl auf das Recht auf friedlichen Protest und Meinungsfreiheit hinwiesen. Bereits am 8. Mai 2024 wurde eine Petition auf Change.org unter dem Titel «ETH domain staff for the right to protest» geteilt, die mittlerweile fast 1’500 Unterschriften erhalten hat. Auch wenn sich nicht alle Unterschriften auf ETHZ-Angehörige zurückführen lassen, vermittelt die Petition ein Stimmungsbild, das den Erfahrungen entspricht, die wir bei uns am Department für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften (D-GESS) gemacht haben: ein weitreichendes Unbehagen demgegenüber, wie die Hochschule mit Protest umgeht.
Am D-GESS wurden der Protest und die Reaktionen der ETHZ innerhalb kurzer Zeit und in verschiedenen Gremien diskutiert. Die Mittelbauvertretung Association of Scientific Staff(ASST) erwog ein öffentliches Statement, welches das Recht auf Protest verteidigen und das strafrechtliche Vorgehen der ETHZ kritisieren sollte. Um der Sache mehr Gewicht zu verleihen, wandte man sich an AVETH, den Dachverband der Mittelbau-Organisationen an der ETHZ. Dieser lehnte es jedoch ab, an einem solchen Statement mitzuwirken, aus Angst, dass dies seine Beziehungen zur Schulleitung belasten würde. Damit war der ASST auf sich allein gestellt, würde er an seinem Vorhaben festhalten, in einem öffentlichen Statement seine Solidarität mit den Protestierenden ausdrücken zu wollen. Er tat dies schlussendlich nicht. Aus formalen Gründen, wie man uns sagte – aus Angst sich zu exponieren, wie wir vermuten.
Wenn man nicht einmal mehr erwarten kann, dass sich repräsentative Organe für die Grundrechte der von ihnen vertretenen Parteien aussprechen – für Rede- und Meinungsfreiheit, für das Recht auf Protest und gegen den Einsatz von strafrechtlicher Verfolgung eigener Mitglieder als Abschreckungsmittel – dann stellt sich die grundlegende Frage, ob diese Organisationen noch als repräsentative Interessensvertretungen gelten können.
Die Bemühungen um ein öffentliches Statement im Namen einer repräsentativen Organisation, welches merkbaren Druck auf die Schulleitung hätte ausüben können, ihre Position und ihr Vorgehen zu überdenken, blieben also erfolglos. Deshalb beschloss eine Gruppe von ETHZ-Angehörigen, der auch die Autor*innen dieses Beitrags angehören, einen Rahmen zu schaffen, in dem individuelle D-GESS-Angehörige sich mit den Protestierenden – in ihrem Recht auf Protest – solidarisieren und ihrem Unbehagen über das Vorgehen der Schulleitung Ausdruck verleihen können. Mit dieser Absicht starteten wir Ende Juni 2024 einen Aufruf mit dem Titel «A peaceful sit-in should not be disrupted». Innerhalb von drei Tagen unterschrieben 68 Mitarbeitende und Studierende am D-GESS das Statement. In Anbetracht der kurzen Dauer, während der wir das Statement zirkulieren liessen, dem Fakt, dass es keine Möglichkeit gab, anonym zu unterschreiben, und der eher bescheidenen Grösse des D-GESS ist dies eine beträchtliche Zahl an Unterschriften. Enttäuschend fielen hingegen die Reaktion der Dachverbände der Mitarbeitenden (AVETH) und Studierenden (VSETH) aus, die die Stellungnahme entweder ignorierten oder rückmeldeten, sie hätten das Thema bereits abschliessend besprochen. Dass kein Diskussionsbedarf mehr anerkannt wird, überrascht besonders im Fall des VSETH, der in einem am 15. Mai auf Instagram publizierten Statement die Proteste als «diskriminierende» und «dehumanisierende Diskursgestaltung» bezeichnete und damit grosse Bestürzung bei Studierenden hervorgerufen hatte.
Im vollen Wissen, das unsere Solidaritätsbekundung wenig Wirkung auf die Vorgänge an der Hochschule haben würde, sahen wir in ihr mehr als eine leere Geste. Die ETHZ-Angehörigen, die sich im Rahmen der Protestaktionen oder am D-ARCH auf friedliche Weise für ein legitimes Anliegen eingesetzt hatten, fühlten sich vor allem vulnerabel und in dieser Situation von der ETHZ als Institution und Gemeinschaft komplett im Stich gelassen. Ein Statement wie unseres zeigt in erster Linie, dass es in der ETHZ-Community Menschen gibt, die die Grundrechte ihrer Mitstudierenden und Arbeitskolleg*innen für schützenswert und ihre Form der Meinungsäusserung als angemessen erachten.
Die Handlungsunfähigkeit der Mittelbauverbände, die unsolidarische und apolitische Einstellung bei vielen ETHZ-Angehörigen, das Klima der Angst, das jene zurückschrecken lässt, die sich solidarisch zeigen wollen und in weitflächiger Selbstzensur gipfelt – das ist ein Aspekt dieser Geschichte. Der andere betrifft das Doppelspiel der ETHZ, die jede politische Haltung von sich weist, zugleich jedoch fortlaufend politische Entscheidungen fällt. Es ist eine politische Entscheidung gewesen, Strafantrag gegen eigene Studierende und Mitarbeitende zu stellen; es ist eine politische Entscheidung gewesen, keine Solidarität oder Mitgefühl für die zivile Bevölkerung von Gaza auszusprechen; und es ist eine politische Entscheidung gewesen, zwei Jahre zuvor der Ukraine diese Solidarität zu bekunden. Doch auch fernab dieser kommunikativen Akte ist die ETHZ schon immer eine politische Institution gewesen, weil sie immer schon die politischen Beziehungen fortgesetzt hat, welche auf Bundesebene gepflegt wurden: Beziehungen zu Staaten und ihren militärischen Einrichtungen.
Diese beiden Aspekte, die Disziplinierung und Selbstdisziplinierung von ETHZ-Angehörigen zu unpolitischen Subjekten und das Doppelspiel der ETHZ, keine Politik machen zu wollen, aber doch immer politisch zu agieren, hängen unserer Ansicht nach zusammen. Die Schulleitung vertritt durchaus eine politische Meinung, nur gewinnt sie diese nicht in der Deliberation mit den Mitgliedern ihrer Institution. Ehrlicher wäre es daher gewesen, wenn sich unsere Hochschule statt mit politischer Neutralität von Anfang an mit politischer Fremdbestimmung verteidigt hätte. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass die ETHZ sich immer erst dann politisch positioniert, wenn es eine klare Linie aus Bern oder einen überwältigenden Konsens in der schweizerischen Mehrheitsgesellschaft gibt, denen man folgen kann. Deshalb gibt es auf der Webseite der ETHZ ein Statement der Solidarität mit der Ukraine, eines der Solidarität mit Menschen aus dem Iran von 2022/23 und eines der Solidarität mit Menschen im Nahen Osten, in welchem die palästinensische Bevölkerung nicht einmal beim Namen genannt wird. Dieser normative Standpunkt wird von der ETHZ aktiv verdrängt, um politische Neutralität für sich reklamieren zu können und jene Solidaritätsbekundungen und Interventionen als politischen Aktivismus zu verurteilen, die eine vom hiesigen Mainstream abweichende Position vertreten. Diese Äusserungen werden dann mit der Begründung verboten, sie seien nicht wissenschaftlich. Den Einsatz solcher rhetorischen Instrumente zur willkürlichen Einschränkung der Meinungsfreiheit und unverhältnismässig repressiver Massnahmen, um diese Verbote durchzusetzen, wollen und müssen wir nicht akzeptieren.
Es ist aber nicht nur die Inkonsequenz, die uns hier zu denken gibt, sondern auch der sehr exklusive und intransparente Prozess politischer Willensbildung. Ihre politische Dimension anzuerkennen, würde für die ETHZ bedeuten, mit schwierigen Fragen konfrontiert zu werden, wie etwa, wer und was diese politische Entscheidungsfindung der Institution mitbestimmt. Demokratisch läuft dieser Prozess an der ETHZ auf jeden Fall nicht ab, denn die Institution leitet ihre politische Haltung nicht aus den Überzeugungen ihrer Mitglieder ab. Solange die Schulleitung nicht anerkennt, dass es so etwas wie eine Politik der ETHZ gibt und solange diese Politik nicht das Ergebnis demokratischer Deliberation ist, bleiben Initiativen wie die am 21. Juni 2024 abgehaltene «Dialogveranstaltung» über die «direkten Folgen des Nahostkonfliktes für die Hochschule und unseren Umgang damit» leere Versprechen. Dialog, da sind wir mit der Schulleitung einig, ist das Ziel. Aber welchen Zweck hat ein Dialog, wenn von vornherein ausgeschlossen ist, dass unsere Meinungen und Inputs ernst genommen werden und auf die politische Willensbildung unserer Institution einwirken können?
* Korrekturanmerkung vom 12.09.2024: In der ersten Version des Beitrags war von 16 Strafanzeigen gegen ETH-Angehörige die Rede. Aktuell können 9 Anzeigen bestätigt werden.
Angesichts des Genozids[1] in Gaza fühlte ich mich ohnmächtig. Aber auch entfremdet von der Uni Bern, welche mich als Student*in massgeblich geprägt hatte. Erst die Besetzung der Uni Tobler öffnete mir einen Raum, in welchem ich gemeinsam mit anderen über die Rolle und die Verantwortung von Unis nachdenken und diesen Reflexionsprozess in kollektives Handeln übersetzen konnte.
Universitäten sind in einer privilegierten Position, um im Kontext des Genozids an der palästinensischen Bevölkerung Druck auf den Staat Israel auszuüben. Dies liegt daran, dass ihre israelischen Partnerinstitutionen und die Militärindustrie des israelischen Staats sich gegenseitig bedingen. Die israelische Anthropologin Maja Wind erklärt in ihrem Buch «Towers of Ivory and Steel», dass israelische Universitäten ihren Campus, ihre Ressourcen, Studierende und Dozierende anbieten, um bei der Entwicklung von Technologien und Waffen zu helfen, die gegen Palästinenser*innen eingesetzt und dann weltweit als «kampferprobt» verkauft werden.[2] Weit davon entfernt, zivile Einrichtungen zu sein, bauen Universitäten ihre Aktivitäten nicht nur als militärische Ausbildungsstätten, sondern auch als Waffenlabors für den israelischen Staat kontinuierlich aus. Während eines Vortrags an der Universität Utrecht zitierte Wind den Leiter des Institute for National Security Studies an der Universität Tel Aviv, welcher gegenüber israelischen Medien erklärt habe, dass internationale Zusammenarbeit und Beziehungen der Sauerstoff der israelischen Universitäten sei und diese wiederum der Sauerstoff des Militärs.[3] Israelische Universitäten waren 2004 das erste und primäre Ziel der Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI) gegen die Besetzung palästinensischer Gebiete.[4] Die Initiant*innen erklärten ihren Aufruf zum Boykott israelischer Universitäten mit deren jahrzehntelangen institutionellen Komplizenschaft mit Israels «Unterdrückungsregime» gegen Palästinenser*innen.[5]
Durch ein Aussetzen der bestehenden Beziehungen mit der Hebrew University of Jerusalem respektive der Universität Haifa würde die Uni Bern klar zum Ausdruck bringen, dass sie nicht bereit ist, Völkermord, Apartheid und Kolonialismus zu normalisieren.[6] Als Orientierung könnten u. a. belgische, niederländische, norwegische und spanische Universitäten dienen, welche die Forderungen ihrer Studierenden bereits teilweise umgesetzt haben.[7] Diese begründen Sanktionen gegen israelische Universitäten mit dem Verweis auf problematische Verbindungen zum israelischen Militär und Staat sowie auf das Fehlen eines Bekenntnisses zum Frieden und zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts.[8] Das Rektorat der Uni Bern hat bisher aber eine inhaltliche Diskussion verweigert und in der Tamedia Presse das dominante Narrativ gestärkt: Protestierende seien ein Sicherheitsrisiko[9], argumentierten auf Basis einer unterkomplexen Einteilung der Welt in «Gut und Böse» und seien sehr wahrscheinlich antisemitisch eingestellt.[10] Die Unileitung sagt letztlich bloss in milderem Ton, was Tamedia unter dem reisserischen Titel «Das triviale Weltbild der Israel-Hasser» ebenfalls ausbreitet.[11] Statt ihren Studierenden zuzuhören, rief sie die Polizei auf den Campus.
Der Blick von nirgendwo
Die Berner Unileitung nimmt für sich in Anspruch, für Wissenschaftlichkeit einzustehen.[12] Dennoch lässt sie schlüssige Argumente vermissen und präsentiert in Interviews entweder persönliche Meinungen oder ein institutionelles Machtwort. Letztlich lautet die Haltung der Unileitung schlicht, dass die Uni Bern keine geeignete Adressatin für unsere Kritik sei. Der ehemalige Rektor Christian Leumann behauptete, dass die Uni keine politische Akteurin sei. Die neue Rektorin Virginia Richter spricht wiederum von «parteipolitischer Neutralität» und führt aus, dass die Uni «keine politische Institution wie eine Regierung oder ein internationaler Gerichtshof» sei.[13] Sie sähe es (deshalb?) nicht als Aufgabe der Uni an, «zu verschiedenen Konflikten Stellung zu nehmen».[14] Doch ist die Universität wirklich eine neutrale Institution oder setzt die Unileitung voraus, was gemäss ihren eigenen Standards zuerst zu beweisen wäre?
Das Rektorat scheint anzunehmen, es könne auf die Welt blicken wie auf eine Karte, von einer Position aus, die, wie der Historiker Bernhard Siegert schreibt, «theoretisch überall und nirgends» sein könnte.[15] Von dieser als «objektiv» verstandenen «Gottesperspektive» aus betrachtet das Rektorat, wie das israelische Militär an der palästinensischen Birzeit University, mit welcher die Uni Bern ein Austauschabkommen hat, Razzien durchführt, Studierende wie Dozierende verhaftet und einsperrt.[16] Und gleichzeitig, wie die Hebrew University of Jerusalem, mit welcher die Uni Bern ebenfalls durch ein Austauschprogramm verbunden ist, die Besetzung palästinensischer Gebiete aktiv mitträgt und sich als verlängerter Arm des Militärs versteht.[17] Maja Wind folgend naturalisierte der Wiederaufbau des Campus der Hebrew University auf dem Berg Skopus den Bau neuer Siedlungen auf enteignetem palästinensischem Land. Im Viertel Issawiyeh direkt unterhalb der Hebrew University sind Massenverhaftungen, Razzien mit Hunden mitten in der Nacht und die Androhung, als Bestrafung für Aktivismus Häuser abzureissen, noch immer an der Tagesordnung. Diese Eskalationstaktik werde von der Verwaltung der Hebrew University unterstützt, indem sie beispielsweise die Überwachung von Issawiyeh durch die israelische nationale Polizei von ihrem eigenen Campus aus erlaubt sowie den südlichen Eingang des Viertels blockieren liess. Die Hebrew University bietet ferner sowohl für die nationale Polizei als auch für die Israeli Defence Force prestigeträchtige Ausbildungsprogramme an. Sie trainiert das Personal derjenigen Institutionen, welche in Sichtweite des Campus die Besetzung mit Gewalt aufrechterhalten und Gaza mitsamt den Universitäten und Spitälern in ein Trümmerfeld verwandelt haben.
Ich und meine Mitaktivist*innen von UniBern_Besetzt halten diese schweigende Zuschauer*innenrolle nicht mehr aus. Auch deshalb nicht, weil wir wissen, dass wir als Bewohner*innen der Schweiz wie als aktive und ehemalige Studierende der Uni Bern eben nicht von nirgendwo auf den Horror in Gaza blicken: Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (FRONTEX), welche die Schweizer Steuerzahlenden mitfinanzieren, kaufte Drohnen bei den israelischen Herstellern Elbit Systems und IAI, um damit Geflüchtete im Mittelmeer zu überwachen, die sie dort ertrinken lässt.[18] Schweizer Bundesbehörden haben israelische Überwachungssoftware erworben und eingesetzt.[19] Elbit Systems Switzerland verkauft Funkgeräte und Drohnen an das Schweizer Militär.[20] Und die Schweizerische Nationalbank hat durch den An- und Verkauf von Elbit-Aktien seit Beginn des Genozids einen Gewinn erzielt.[21] Wie in den meisten Staaten des globalen Nordens blicken wir aus einer Position der Komplizenschaft auf den Livestream des Völkermords auf unseren Bildschirmen. Das zur Ware gewordene Wissen aus der Besetzung ist etablierter Bestandteil der vorherrschenden Migrations- und «Sicherheitspolitik».[22] Der israelische Aktivist und Anthropologe Jeff Halper erklärte vor dem Hintergrund des Exports israelischer Besetzungstechnologie, dass das, was Israel mit den Palästinenser*innen mache, eine Miniatur dessen sei, was der globale Norden mit dem globalen Süden macht.[23] Maja Wind sieht die internationale Besetzungswelle an Universitäten vielleicht auch deshalb als Beginn einer neuen Dekolonisierungsbewegung.[24]
Epistemische Gewalt
Das Rektorat der Uni Bern reflektiert weder die Beteiligung ihrer israelischen Partnerunis an der Besetzung palästinensischer Gebiete und ihre Verwicklung in den Genozid in Gaza, noch seine eigene Komplizenschaft. Es vermag sich selbst und die Uni Bern nicht als eingewoben in Beziehungsnetze, in Geschichte und in Herrschaftsstrukturen zu denken. In körperloser Abstraktion von oben betrachtet, schrumpft der Völkermord zu irgendeinem gewalttätigen Konflikt weit weg zusammen, dem eine vermeintlich gewaltfreie Wissensproduktion in Bern gegenübersteht. Die Sozialwissenschaftlerin Claudia Brunner erklärt in diesem Kontext, dass vom privilegierten Standort einer eurozentrischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gewalt aus betrachtet, diese meist «anderswo, anderswer und anderswas» ist.[25] Die Unileitung vergisst, dass die Uni, wie ich auf ihrer Webseite lesen darf, «in der Gesellschaft verankert ist».[26] Das heisst, in einer kapitalistischen Gesellschaft, in welcher koloniales Denken und Handeln noch immer bestimmend sind. Sie will nicht sehen, dass gerade Universitäten bestehende Herrschaftsordnungen sichern, «indem sie selbst innerhalb demokratischer Strukturen Privilegien stützen, Marginalisierungen fortschreiben und Selektionsprozesse naturalisieren».[27] Brunner spricht in diesem Zusammenhang von epistemischer Gewalt und meint damit «jenen Beitrag zu Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, der im Wissen selbst angelegt und zugleich für deren Analyse unsichtbar geworden ist».[28] Insbesondere mit Blick auf Gaza müssen wir an der Uni Bern über Möglichkeiten des Undoings epistemischer Gewalt verhandeln.
Was bedeutet es, neutral zu sein, wenn ich in einer ungleichen Welt auf derjenigen Seite lebe, die den grössten Teil der Ressourcen für sich beansprucht und andere davon ausschliesst? Was bedeutet Neutralität angesichts von Genoziden? Die Rhetorik der Neutralität bringt die imaginierte Aussenperspektive mithervor, welche bestehende Ungleichheit und Komplizenschaft mit Machtstrukturen in Abstraktion auflöst. Wenig überraschend findet sich als Synonym von Neutralität auch Indifferenz. Walter Benjamin sah diesbezüglich deutlich, dass «der Name der Wissenschaft» sich dazu eignet, «eine tiefeingesessene, verbürgerte Indifferenz zu verbergen».[29] Wenn eine Uni nicht einfach voraussetzt, dass sie über den Dingen steht, heisst Verantwortung wahrnehmen, an den epistemischen Brüchen im herrschenden Paradigma zu arbeiten, statt sich in ihm einzurichten.[30] Eindeutige Positionierung ist ebenfalls eine Möglichkeit, epistemische Gewalt zumindest teilweise zurückzunehmen.[31] Denn auch eine Unterlassungshandlung ist eine Handlung und damit ethisch und politisch relevant. Kein Statement ist auch ein Statement, wenn strukturelle Gewalt dadurch legitimiert oder unsichtbar gemacht wird. Und nicht zuletzt könnte eine Positionierung gegen den hegemonialen Diskurs marginalisierten Positionen den Weg bahnen. Auch ein Boykott israelischer Universitäten ist ein wichtiger Beitrag zur Rücknahme epistemischer Gewalt, weil diese Institutionen Wissen zur Verfügung stellen, um die Besetzung und das Apartheid-Regime fortzuführen und zu legitimieren sowie um einem Militärapparat zuzudienen, welcher vor unser aller Augen schwerste Kriegsverbrechen verübt.[32] Die Journalistin Naomi Klein schrieb bereits 2012 in ihrem Plädoyer für die Boycott Divest Sanction-Bewegung, dass wirtschaftliche Sanktionen das effektivste Werkzeug im gewaltfreien Arsenal seien und dass ein Verzicht darauf an aktive Komplizenschaft grenze.[33]
Doch damit die Uni Bern diesen Weg geht, braucht es Menschen, die in ihren Augen «unprofessionell» sind, die eine Szene machen und den Unialltag stören, weil sie sich nicht daran gewöhnen wollen, dass die Uni Bern Herrschaftsdienst leistet. Virginia Richter mag der Ansicht sein, dass «distanzloser Aktivismus»[34] an der Uni keinen Platz hat, doch die Institution selbst ist darauf angewiesen, um ihre kolonialen Denk- und Handlungsmuster zu überwinden. Ich hoffe, dass weitere Uniangehörige im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit uns herausfinden wollen, wie ein alternativer Pfad der Dekolonisierung und der Reduktion epistemischer Gewalt für die Uni Bern aussehen könnte. Um den Pfad zu verbreitern, müssen wir ihn zusammen gehen und uns gegenseitig unterstützen. Dies im Wissen, dass Studierende und Dozierende die Uni zu dem machen, was sie ist.
Autor*in Robin hat an der Uni Bern studiert und als Hilfsassistent*in gearbeitet.
[2] Maya Wind, Towers of Ivory and Steel, London 2024.
[3] Marjorie van Elven, «Executive Board Members Attend Pro-Palestine Event for the First Time. Maya Wind: ‹Israeli Universities are Deeply Entangled with Military Projects›», DUB The independent news site of Utrecht University, 21.5.2024, https://dub.uu.nl/en/depth/maya-wind-israeli-universities-are-deeply-entangled-military-projects, (02.8.2024).
[6] Ilan Pappe, Ten Myths About Israel, London 2017.
[7] David Matthews, «Academic Boycotts over Gaza War Jeopardise Israel’s Place in Horizon Europe», Science Business, 23.5.2024, https://sciencebusiness.net/news/universities/academic-boycotts-over-gaza-war-jeopardise-israels-place-horizon-europe, (02.8.2024).
[13] Marina Bolzli, Mara Hofer, «Distanzloser Aktivismus hat an der Uni keinen Platz», Die Hauptstadt, 12. 7.2024, https://www.hauptstadt.be/a/interview-virginia-richter?articleId=clyhbbu6j01dx8s06vzcmhqg0, (2.8.2024).
[15] Bernhard Siegert, «(Nicht) Am Ort. zum Raster als Kulturtechnik». Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar 3 (2003), 100.
[16] Birzeit University, «Statement by Birzeit University on the Israeli Military Raid on its Campus and Detention of its Students», Birzeit University,25.9.2023, https://www.birzeit.edu/en/news/statement-birzeit-university-israeli-military-raid-its-campus-and-detention-its-students, (2.8.2024).
[17] Maya Wind, «Hebrew University a Pillar of Israeli Colonialism», Mail & Guardian, 29.4.2024, https://mg.co.za/thought-leader/opinion/2024-04-29-hebrew-university-a-pillar-of-israeli-colonialism/, (2.8.2024).
[18] Idoia Villanueva Ruiz, «Parliamentary Question. Procurement of Israeli Drones for the Surveillance of Migrants in the Mediterranean», European Parliament, 2.6.2020, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2020-003321_EN.html, (2.8.2024); Antony Loewenstein, The Palestine Laboratory. How Israel Exports the Technology of Occupation Around the World, London 2023, 100.
[19] Gabriel de Weck, Gilles Clémençon, «La Suisse utilise aussi un logiciel espion israélien du type Pegasus.», RTS, 11.8. 2001, https://www.rts.ch/info/suisse/12411718-la-suisse-utilise-aussi-un-logiciel-espion-israelien-du-type-pegasus.html, (2.8.2024).
[20] Marguerite Meyer, Ariane Lüthi, «Rüstungspolitik. Heikler Transfer von Know-how?», WOZ, 6.12.2023, https://www.woz.ch/2345/ruestungspolitik/heikler-transfer-von-know-how/!JFEH9FVVNVTE, (2.8.2024).
[21] Claude-Olivier Volluz, «Anlagepolitik der Nationalbank. Israelisches Rüstungsunternehmen verhilft der SNB zu Gewinn.», SRF, 28.6.2024, https://www.srf.ch/news/dialog/anlagepolitik-der-nationalbank-israelisches-ruestungsunternehmen-verhilft-der-snb-zu-gewinn, (2.8.2024).
[23] Jeff Halper, War Amongst the People. Israel, the Palestinians and Global Pacification, Vortrag im Lokal Pritličje in Ljubljana, 25.01.2016, https://www.youtube.com/watch?v=XDbISMEB4cQ, (2.8.2024).
[25] Claudia Brunner, Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne, Bielefeld 2020, 13.
[26] Universität Bern, «Öffentlichkeit und Umfeld. Die Universität Bern ist in der Gesellschaft verankert und übernimmt dieser gegenüber Verantwortung», https://www.unibe.ch/universitaet/portraet/selbstverstaendnis/leitbild/oeffentlichkeit_und_umfeld/index_ger.html, (2.8.2024).
[29] Walter Benjamin, «Das Leben der Studenten», in Johanna-Charlotte Horst et al. (Hg.), Unbedingte Universitäten. Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee, Zürich 2010, 47f.
[30] Cornelia Brunner, «Conceptualizing Epistemic Violence. an Interdisciplinary Assemblage for IR», International Politics Reviews 9(2021), 208.
Das Titelbild des Heftes «Natur» wurde von Denise Bertschi im Rahmen ihres Doktoratsprojekts (EPFL, Laboratoire des Arts et des Sciences) gestaltet, das die komplexen kolonialen Verbindungen zwischen Neuchâtel und «Helvécia» in Bahia, Brasilien, durch das Prisma der visuellen und materiellen Kultur erforscht.
Obwohl Landschaften den Betrachtenden ihre komplexen Geschichten nicht immer offenbaren, tragen sie, so Bertschi, die Geschichten des Bodens und seiner mehrschichtigen Transformationen als Palimpsest von Zeit und Raum in sich. Es sind diese sichtbaren und unsichtbaren Zeichen eines Urbanisierungsprozesses der Natur durch menschlichen Eingriff, welche Bertschi auch anhand künstlerischer Forschungsmethoden befragt.
In dieser Hinsicht zeugt das Gebiet um «Helvécia» im Süden Bahias von der globalen Geschichte des Kolonialismus und den nach wie vor bestehenden Verbindungen zur Schweiz. Die helvetische Plantokratie, hauptsächlich Familien aus der Region Neuchâtel, rodete zu Beginn des 19. Jahrhunderts grosse Flächen der Mata Atlântica und nutzte dabei Zwangsarbeit der lokalen indigenen Bevölkerung. Die Schweizer und Schweizerinnen bewirtschafteten ihre Kaffeeplantagen mit der Arbeitskraft von über 2000 versklavten afrikanischen und afrikanischstämmigen Männern, Frauen und Kindern. Mehr noch, die Schweizer Behörden wurden auch selbst zum kolonialen Akteur, denn eines der ersten Konsulate der Schweiz wurde 1834 in Bahia und 1861 in der Kolonie (Colônia Leopoldina genannt) selbst eingerichtet, um die Interessen der Schweizer Plantagenbesitzer:innen zu schützen und sie bei ihren Kolonialisierungsbemühungen zu unterstützen.
Heute hat die Monokultur von Eukalyptusbäumen die früheren Kaffeeplantagen fast vollständig verdrängt. Die Schweizer Plantagen auf Colônia Leopoldina, ein Beispiel von racial capitalism[1] des 19. Jahrhunderts, wurden durch das multinationale Unternehmen Suzano ersetzt, ein brasilianisches Papier- und Zellstoffunternehmen, das schnell wachsende gentechnisch optimierte Eukalyptusbäume kultiviert. Indem dieses Unternehmen, wie auch schon die Kaffeeplantagen des 19. Jahrhunderts, ein lebendiges Ökosystem durch eine «operational landscape»[2] ersetzt, macht es die Natur zur Ware und führt so zu ihrer Ausbeutung.
Die aufeinanderfolgenden kapitalistischen Praktiken haben das atlantische tropische Ökosystem in der Region um «Helvécia» und die damit verbundene sozioökonomische Ordnung zerstört. Die Quilombo «Helvécia», eine Gemeinschaft von Nachkommen ehemaliger versklavter Personen, ist auch heute noch in dieser Region angesiedelt. Die Frauen, welche die Quilombo-Gemeinschaft stark prägen, bezeichnen ihre Arbeits- und Lebensbedingungen als «neokolonial», ähnlich den Arbeitsbedingungen ihrer Vorfahr:innen, die auf den Schweizer Kaffeeplantagen lebten.[3] Wie diese versuchen sie, sowohl den Schwierigkeiten ihrer Lebensbedingungen als auch der kapitalistischen Überausbeutung der Natur im «plantationocene»[4] zu trotzen.
Denise Bertschi, «Gaping Absences. Where is Helvécia?», in Denise Bertschi, Julien Lafontaine, Nitin Bathla (Hg.), Unearthing Traces. Dismantling imperialist entanglements of archives, landscapes, and the built environment, Lausanne 2023, 141–163. Denise Bertschi, Strata. Mining Silence, Zürich 2020. www.denisebertschi.ch
Ausstellungen: Aargauer Kunsthaus, Denise Bertschi Manor Kunstpreis 2020, Einzelausstellung, 2020. Landesmuseum Zürich, Im Wald. Eine Kulturgeschichte, 2022.
Demnächst: Denise Bertschi, Spatial Convers(i)or, Einzelausstellung, Centre d’Art de Neuchâtel, Sept. 2024. Landesmuseum Zürich, kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz, Historische Ausstellung mit Bertschis Werken zu Helvécia, Sept. 2024.
[1] Cedric J. Robinson, Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill 2000.
[2] Neil Brenner und Nikos Katsikis, «Operational Landscapes. Hinterlands of the Capitalocene», in Ed Wall (Hg.), The Landscapists. Redefining Landscape Relations, Wiley 2020, 23–31.
[3] Dies geht aus Interviews mit den Initiatorinnen der «Quilombo» von «Helvécia» hervor, welche Denise Bertschi im Februar 2017 führte.
[4] Gregg Mitman, «Reflections on the Plantationocene. A Conversation with Donna Haraway and Anna Tsing», Edge Effects Magazine, 18.6.2019, https://edgeeffects.net/haraway-tsing-plantationocene (17.11.2023).
Public History – wozu? Koloniale Vergangenheit und Rassismus in der Gegenwart
Die Öffentlichkeitsbedeutung von Geschichte steckt in einem Hoch. In der Schweiz erregt insbesondere auch der Umgang mit und die Deutung der kolonialen Vergangenheit die Gemüter. Auffallend an den Debatten ist, dass sich diese häufig an normativen Fragen entzünden:[1] Sollen Schaumzucker-Süssspeisen und Strassennamen umbenannt werden? Sollen bestimmte Kinderbücher noch gedruckt werden? Sollen historische Inschriften und Statuen demontiert werden? Sollen weisse Männer Dreadlocks tragen und mit Reggae-Musik Geld verdienen dürfen? Dabei handelt es sich um sehr kontrovers debattierte Themen. Die heftigen Reaktionen zeigen, dass diese öffentlichen Belege für unsere koloniale Vergangenheit und rassistische Gegenwart das vorherrschende Erinnerungsparadigma in Frage stellen, wonach es in der Schweiz keine Verbindungen zu Kolonialismus und Rassismus gab.
Die Vehemenz, mit der diese Auseinandersetzungen geführt werden, lässt sich durchaus mit der öffentlichen Aufarbeitung und Anerkennung der Rolle der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus in den 1990er-Jahren vergleichen.[2] Auch damals widersprachen wissenschaftliche Erkenntnisse zunächst dem dominierenden Erinnerungsdiskurs und gefährdeten so das nationalhistorische Selbstverständnis der Schweiz. Eine weitere Parallele besteht in der Bedeutung von Aktivist:innen, Bürger:inneninitiativen und regionalen Public History Projekten für den initiierten Wandel der historischen Wahrnehmung. In beiden Fällen waren sie es, die auf erste Verbindungen hinwiesen, lokale Beispiele hervorhoben und die Öffentlichkeit auf heutige Auswirkungen dieser historischen Verflechtungen der Schweiz aufmerksam machten.
Die Skepsis, mit der Generationen von Historiker:innen – in Anlehnung an Maurice Halbwachs, Pierre Nora und andere – der Öffentlichkeitsbedeutung von Geschichte begegneten, ist einer zunehmenden Bereitschaft, Erinnerungskulturen zu untersuchen und selbst Einfluss auf das öffentliche Geschichtsbild zu nehmen, gewichen.[3] Die Public History hat sich als Folge mittlerweile auch an europäischen Universitäten etabliert, nicht zuletzt dank der Bedeutung des Holocaust als Bezugspunkt für die europäische Integration.[4]
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob auch die Geschichte des Kolonialismus zu einem Fluchtpunkt einer gemeinsamen europäischen Geschichte werden könnte. Denn die Thematisierung der kolonialen Vergangenheit kann das kollektive Gedächtnis um wichtige Aspekte erweitern. Die globale Dimension der europäischen Geschichte wird als inhärenter Teil ihrer Erinnerungskultur verankert, womit den Menschen, die in Europa leben und die Folgen dieser Verflechtungen im Alltag weiterhin zu spüren bekommen, eine Stimme gegeben wird. Die heute sich stetig pluralisierende und weltweit vernetzte Gesellschaft steht vor zahlreichen Herausforderungen, die uns zwingen, eine tiefgreifende Neubewertung unserer Vergangenheit vorzunehmen. Es ist unerlässlich, einen Dialog zu etablieren, der den aktuellen gesellschaftlichen Sensibilitäten gerecht wird, während er gleichzeitig unsere Geschichte in ihrer Gesamtheit respektiert.
Unsere Webseite colonial-local.ch soll im schweizerischen Kontext einen Beitrag dazu leisten. Sie versucht, die hitzigen Debatten in Zeitungen und sozialen Medien historisch zu kontextualisieren und dadurch zu einer differenzierteren Auseinandersetzung anzuregen. Sie vermittelt wissenschaftlich fundierte Inhalte und soll Nutzer:innen dafür sensibilisieren, dass die Vergangenheit von Ambivalenzen geprägt war, womit eine kritische Analyse der Gegenwart in der breiten Gesellschaft ermöglicht werden soll.
Colonial-local.ch fokussiert dabei auf einen regionalgeschichtlichen Zugang am Beispiel Freiburgs. Diese ländlich geprägte Region wurde bis anhin im Gegensatz zu den wirtschaftlichen und politischen Zentren der Schweiz kaum mit der Kolonialgeschichte in Verbindung gebracht. Gerade diese Position eröffnet Möglichkeiten, um die Omnipräsenz und breite Verankerung kolonialer Verflechtungen in allen Teilen der Schweizer Bevölkerung aufzuzeigen. Die Webseite illustriert einerseits die Beteiligung von Schweizer:innen am Kolonialismus, zum Beispiel als Söldner, Missionar:innen, Auswander:innen oder Rassenforscher. Andererseits belegt die Webseite, dass diese Verbindungen Rückwirkungen auf die lokale Bevölkerung zeigten und in Kirchen und Museen, in Wissenschaft und Schule, in Konsumgütern und Denksystemen präsent waren und teilweise bis heute weiterwirken.
Die Webseite als Medium der Geschichtsvermittlung
Die Art und Weise, wie Geschichte vermittelt, erzählt und rezipiert wird, hängt massgeblich von der verwendeten Medienform ab. Die Geschichtswissenschaft ist nach wie vor durch ein Primat des gedruckten Buchs geprägt. Alternative Formate, um Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu diffundieren, erleben aktuell einen Aufschwung. Aber obwohl viele Historiker:innen seit Jahrzehnten mit Bild- und Filmquellen arbeiten und mittlerweile auch digitale Quellen berücksichtigen, wie das Aufkommen der Digital History illustriert, übersetzt die Geschichtswissenschaft ihre Erkenntnisse bis anhin vor allem in textbasierte Vermittlungsformen.
Dies erscheint nicht nur vor dem Hintergrund der zunehmenden Nachfrage nach geschichtsvermittelnden Inhalten im digitalen Raum als bedauerlich. Vielmehr bergen digitale Formate auch grosses Potenzial für die Geschichtsvermittlung. Sie ermöglichen Historiker:innen, Einfluss auf die Gestaltung von Erinnerungskulturen zu nehmen, die sich in den letzten Jahren stark pluralisiert und an gesellschaftspolitischer Bedeutung gewonnen haben. Am Beispiel von colonial-local.ch kann gezeigt werden, welche Chancen die digitale Bereitstellung historischer Inhalte eröffnet, aber auch welche spezifischen Herausforderungen dies mit sich bringt, die sorgfältig abgewogen und angegangen werden müssen.
Reichweite, Nachvollziehbarkeit, Interaktivität – Die Chancen
Webseiten bieten in doppelter Hinsicht neue Möglichkeiten für Historiker:innen: Zum einen können Erkenntnisse und Erzählungen zur Vergangenheit in alternativer Form vermittelt und kommuniziert werden. Zum anderen eröffnen sie Kanäle für einen Austausch zwischen Geschichtswissenschaft und breiter Öffentlichkeit.
Geschichtsvermittlung im digitalen Raum kann von den Vorteilen und Spezifika sogenannter «quartärer Medien» profitieren.[5] Eine Webseite ist mit Desktop- und Mobilgeräten leicht zugänglich, was für die Breitenwirkung zentral ist; sie kann durch stete Bewirtschaftung langlebig gehalten werden, was die Möglichkeit einer nachhaltigen Beschäftigung mit dem Thema eröffnet; sie ist interaktiv und kann entsprechend erweitert und angepasst werden.
Darüber hinaus erlaubt die gleichzeitige Bereitstellung von Primärquellen und wissenschaftlichen Erkenntnissen eine fundiertere und glaubwürdigere Repräsentation von Geschichte. Wie die Untersuchungen von Paul Ashton und Paula Hamilton zeigen, verleiht die Öffentlichkeit eher jenen Geschichten Autorität, die sie anhand von Spuren der Vergangenheit selbst nachvollziehen kann.[6] Im Gegensatz zu gedruckten Geschichtspublikationen bieten digitale Medien die Möglichkeit, direkt auf die Quellen und damit auch auf die Interpretationsgrundlage der Historiker:innen zuzugreifen.[7] Während in der traditionellen Geschichtsschreibung die gewonnen Erkenntnisse nur abstrakt in den Fussnoten nachvollziehbar sind, können auf Webseiten historisch-methodische Vorgehensweisen zu Gunsten des Vertrauens von Nutzer:innen konkret erfahrbar gemacht werden.[8] So erfahren die Nutzer:innen von colonial-local.ch zum Beispiel im Zusammenhang mit Nova Friburgo nicht nur die Geschichte dieser Schweizer Kolonie in Brasilien, sondern können auch direkt auf Originalquellen zugreifen und erhalten zudem Informationen zu weiterführender Literatur.
Gerade im Kontext der schweizerischer Kolonialgeschichte sind Webseiten ideal für die Vermittlung historischen Wissens. Der zunehmenden Anzahl geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen und Erkenntnisse zur kolonialen Vergangenheit der Schweiz steht nämlich das nach wie vor verbreitete Geschichtsbild einer kolonialen Unschuld in der breiten Bevölkerung gegenüber. So konnten Historiker:innen mittlerweile zeigen, dass die Schweiz nicht trotz ihrer politischen Neutralität, sondern gerade wegen ihr erfolgreich am Kolonialismus mitwirken konnte. Keine eigenen Kolonien zu besitzen, ermöglichte den Schweizer:innen, in transimperialen Netzwerken zu agieren und zu verschiedenen, teils konkurrierenden kolonialen Projekten beizutragen. Diese Befunde gefährden fest verankerte Nationalmythen und stossen folglich auf Ablehnung. Am Thema Kolonialismus wird somit die Diskussion um die Rolle und Funktion der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung für die Erinnerungskultur besonders virulent.
Die Notwendigkeit, das öffentliche Vertrauen in historische Erkenntnisse zu gewährleisten, ergibt sich aus der engen Verbindung des Narrativs der Schweiz als koloniale Abseitssteherin mit der Vorstellung einer schweizerischen «racelessness»[9] und «weissen Unschuld»[10]. Wie die Debatten in den vergangenen Jahren gezeigt haben, hat dieses Selbstbild eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart in einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft stark gehemmt, weshalb es entscheidend ist, dass das in den letzten Jahren erworbene akademische Wissen in die Gesellschaft diffundiert und angenommen wird. Nur wenn koloniale Hintergründe und rassistische sowie rassifizierende Strukturen in allen Bereichen des täglichen Lebens erkannt, benannt und verstanden werden, können sie letztlich überwunden werden.
Eine weitere Chance digitaler Geschichtsvermittlung eröffnet sich dadurch, dass Inhalte nicht zwangsläufig in linearer Textform präsentiert werden müssen. Für colonial-local.ch wurde ein mehrdimensionales Layout entwickelt, in dem die dargestellten Geschichten durch animierte Einblendungen gestört und dadurch auch gebrochen werden. Unterschiedliche Farbkodierungen lassen sowohl zentrale Aussagen als auch Verknüpfungen zur Gegenwart ins Auge springen und sollen dadurch zu einer kritischen Reflexion anregen.
Dieses Design dient der Dekonstruktion von Vorstellungen oder Vorurteilen und verknüpft die koloniale Vergangenheit mit heutigen Gesellschaftsfragen. Es ermöglicht aber auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit historiografischen Problemen, die gerade bei kolonialen Erzählungen angesprochen und veranschaulicht werden müssen: Wie kann die Geschichtswissenschaft mit der Asymmetrie von Kolonialarchiven umgehen und wie können vermeintlich stumme Zeug:innen sichtbar gemacht werden?[11] So lassen sich beispielsweise beim Thema Söldnertum nicht nur die die Biografien von drei Freiburgern in fremden Diensten aufklappen, sondern auch das Feld «Der Unbekannte», welches genau diese Fragen adressiert.
Schliesslich ermöglicht colonial-local.ch es den Nutzer:innen auch zu verstehen, dass nicht nur Wirtschaft, Religion, Kultur, Wissenschaft oder Politik mit dem Kolonialismus verflochten waren, sondern dass diese Aspekte sich gegenseitig beeinflussten und beeinflussen. Solange diese dichten Netze und komplexen Verbindungen nicht berücksichtigt werden, können die Auswirkungen, die Langlebigkeit und die Reichweite des Phänomens Kolonialismus nicht erklärt und seine Folgen bis heute nicht vollständig verstanden werden. Das entwickelte Webdesign eröffnet die Möglichkeit, die vielfältigen Verflechtungen aufzuzeigen, statt einzelne Themen isoliert aneinanderzureihen. Dieses «Systemdenken»[12] stimuliert ein multiperspektivisches Verständnis, indem es die streng chronologische Vermittlung von Geschichte aufbricht. Ein pluralistischer Blick auf die Vergangenheit entspricht den heutigen Herausforderungen der Identitäts- und Geschichtskonstruktion, indem er global ausgerichtetes Wissen und Handeln fördert.[13]
Über diese vielfältigen Chancen für die Geschichtsvermittlung hinaus bestechen Webseiten insbesondere durch ihre interaktiven Möglichkeiten. Anstelle des üblichen Top-Down-Wissenstransfers kann das Publikum aktiv partizipieren und mitgestalten. Colonial-local.ch ist als ein wachsendes Archiv konzipiert. Besucher:innen haben erstens die Möglichkeit, historische Quellen aus privaten Sammlungen einzureichen und so zur Vervollständigung der (post)kolonialen Geschichte der Region beizutragen. Das Publikum kann das koloniale Archiv mitgestalten und darüber hinaus historische Fragestellungen und Vorgehensweisen anstossen und mitprägen.
Neben der Erweiterung des Quellen- und Wissensbestandes zu diesen historischen Verflechtungen dient zweitens der Blog der Website als Plattform für die Stimmen der von Rassismus betroffenen Menschen und ermöglicht so die Integration ihrer Perspektiven, Erfahrungen und Erinnerungen in die Geschichtsschreibung. Die Diskursteilnahme von Akteur:innen abseits der etablierten Autor:innenschaft rückt die Geschichtsproduktion weiter in die Gesellschaft und hilft bei ihrer Verankerung. Diese Pluralisierung der Perspektiven und Stimmen kann dabei helfen, das Bild der Vergangenheit zu erweitern.
Angebot, Rezeption und Nachfrage – Die Herausforderungen
Die vielfältigen Möglichkeiten und Chancen für die Geschichtsvermittlung via Webseiten allgemein, wie auch für die Kolonialgeschichte im Speziellen, stellen gleichzeitig auch Herausforderungen dar. Exemplarisch für colonial-local.ch werden hier drei Problemfelder angesprochen und unser Umgang damit vorgestellt: Die Sprache, die Handhabung von problematischen visuellen Quellen und die Gewährleistung einer breiten Reichweite sowie frequentierten Nutzung.
Auf sprachlicher Ebene ergaben sich bei der Gestaltung der Webseite einerseits im Kontext der in den Quellen verwendeten Begriffe Schwierigkeiten, da diese Begriffe nicht selten mehr oder weniger offensichtlich rassistischer Natur sind. Werden sie übermässig abgebildet und historisch nicht eingeordnet, besteht die Gefahr, dass sie unkritisch rezipiert und allenfalls sogar reproduziert werden. Andererseits bildet die Sprache generell eine Herausforderung für die Vermittlung von historisch komplexen Themen: Die regionale Kolonialgeschichte soll auf der Webseite gerade auch für ein jüngeres Publikum attraktiv und nachvollziehbar sein, ohne gleichzeitig unsachgemässe Simplifizierungen, Trivialisierungen und Verniedlichungen zu produzieren.
Eine Antwort darauf stellt das auf der Webseite integrierte Glossar dar, welches an den gegebenen Stellen direkt verlinkt wurde und auch einen generellen Leitfaden zur Lektüre von kolonialen Quellen und Literatur zur Kolonialgeschichte bietet. Die Webseite ist weiter sprachlich so aufgebaut, dass sie möglichst präzise und sensibel vermittelt, deutlich zwischen der Sprache der Quellen und jener der Analyse differenziert und rassistische Begriffe sowie koloniale Denkfiguren systematisch problematisiert.
Die Kolonialgeschichte umfasst weiter gerade hinsichtlich visueller Abbildungen einen sehr umfangreichen, aber auch in der Verwendung äusserst heiklen Quellenkorpus. Koloniale Fotografien entstanden immer in asymmetrischen Machtkonstellationen, teils auch unter Zwang, wodurch der Fotoapparat zu einem Instrument der Kolonisierung wurde.[14] Fotografien waren an der Produktion der visuellen Kolonialkultur massgeblich beteiligt und halfen bei der Perpetuierung spezifischer Stereotype und Machtverhältnisse. Die eurozentrische Perspektive, der häufig stark inszenierte und arrangierte Charakter ihrer Entstehung, die verwendeten technischen Mittel wie die lange Belichtungszeit zur Akzentuierung des Unterschieds zwischen schwarz und weiss – all diese Aspekte gilt es bei der heutigen Betrachtung zu reflektieren und zu berücksichtigen. Ohne diese wichtigen Einsichten aus der Visual History droht eine undifferenzierte Verwendung von höchst sensiblen Quellen, eine Reproduktion kolonialer Blickregime sowie eine erneute Objektivierung (ehemals) kolonisierter Menschen.[15]
In Anbetracht dieser Problemlage haben wir uns auf colonial-local.ch dafür entschieden, visuelles Material nur sparsam einzusetzen. Die Nutzer:innen werden bei den entsprechenden Bildern zudem auf den Eintrag zur Kolonialfotografie im Glossar verwiesen, in dem die Hintergründe und Stolpersteine erklärt werden. Mit dieser Einordnung hoffen wir dazu beizutragen, dass bereitgestellte visuelle Quellen mit der erforderlichen Vorsicht und Sensibilität betrachtet werden.
Da das online-Format allerding keine kontrollierte Rezeption von visuellen Quellen erlaubt, wurden offen rassistische, entwürdigende und entmenschlichende Fotografien aus bildethischen Gründen nicht integriert.[16] Insbesondere das erneute Abbilden derjenigen Menschen, die zu Unterhaltungszwecken einem europäischen Publikum in Zoos oder an Jahrmärkten präsentiert wurden, birgt die Gefahr, den kolonialen Gewaltakt des Ausstellens zu wiederholen. Allzu häufig werden heute gerade solche Bilder unkritisch und ohne Kontextualisierung als Belege für die Unmenschlichkeit des Kolonialismus und seiner Denkweisen herangezogen, wodurch voyeuristische und sensationalisierende Effekte erzeugt werden und koloniale Sehgewohnheiten nicht selten reproduziert statt gebrochen werden.[17]
Schliesslich stellt die Gewährleistung der frequentierten Nutzung und Rezeption bei digitalen Formaten eine Herausforderung dar. Wie kann sichergestellt werden, dass Webseiten, welche historische Inhalte aufarbeiten und vermitteln, auch besucht werden und so die Inhalte in die breite Öffentlichkeit diffundiert werden können? Dieser Frage sind wir mit zwei Strategien begegnet.
Erstens ist die Webseite auf drei verschiedenen Plattformen der sozialen Medien vertreten. In regelmässigen Posts wird dort auf neue Entwicklungen des Public-History-Projekts, aktuelle Blog-Beiträge und inhaltliche Aspekte der Webseite verwiesen, wodurch auch die sozio-politische Relevanz der Webseite für aktuelle Debatten und die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart akzentuiert werden kann.
Zweitens wurde colonial-local.ch sprachlich und inhaltlich explizit als Bildungswebseite für den Schulunterricht konzipiert. Im Austausch mit Lehrkräften, Didaktiker:innen, Expert:innen der Rassismusprävention und Schüler:innen werden derzeit in einem Folgeprojekt Lernmedien entwickelt, welche die multimediale, interaktive Nutzung der Webseite in Schulen auf Sekundarstufe I und II begleiten und erweitern. In diesem Zusammenhang entsteht auch eine Quellensammlung mit weiteren schriftlichen und visuellen Quellen ausschliesslich für Lehrpersonen, die im Unterricht deren kritische Rezeption und differenzierte Interpretation garantieren können.
Es wurde deutlich, dass seitens der Lehrkräfte ein grosses Interesse besteht, den Schulunterricht zu postkolonialisieren, dass verständliche und attraktive Materialien dazu allerdings nach wie vor weitgehend fehlen. Dabei zeigt sich insbesondere die regionalgeschichtliche Zugangsweise der Webseite, anhand der die Schüler:innen den kolonialen Spuren und damit auch der Genealogie des heutigen Rassismus in ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt und geografischen Umgebung nachgehen können, als fruchtbar.
Die begleitenden, sich in Produktion befindenden Arbeitsmaterialien richten sich aber nicht nur an das frankophone und deutschsprachige Freiburg, sondern werden überregional konzipiert und können in Verbindung mit colonial-local.ch im Sinne eines «exemplarischen Lernens» schweizweit Anwendung finden. Die nachhaltige Verfügbarkeit der Webseite und das darauf allgemein zugängliche Grundlagenmaterial ermöglicht es, dass Lehrpersonen das Thema niederschwellig in den Schulunterricht integrieren können, wobei sich die Anwendung nicht allein auf den Geschichtsunterricht beschränkt, sondern hinsichtlich der Weiterwirkung kolonialer Strukturen in der heutigen Zeit vielfältige Anknüpfungspunkte innerhalb des Lehrplans ermöglicht.[18]
Fazit
Die Aktualität des Kolonialismus für die Schweizer Öffentlichkeit erschliesst sich nur, wenn sie als Reaktion auf grundlegende Veränderungen der Gegenwart begriffen wird. Die zunehmende Migration und Mobilität haben zu einer Pluralisierung der Erinnerungslandschaft geführt, in der für grosse Teile der schweizerischen Bevölkerung eine entgrenzte Geschichte den selbstverständlichen Bezugsrahmen bildet. Dabei spielt die Kolonialgeschichte eine entscheidende Rolle, da sie nicht länger die Vorstellung einer helvetischen Insel innerhalb Europas bedient, sondern die Schweiz als Teil einer globalen Kolonialkultur verortet. Somit erscheint nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Gegenwart in einem neuen Licht. Verschiedene Organisationen und lokale Initiativen machen mit ihren kolonialhistorischen Angeboten auf den aktuellen und alltäglichen Rassismus aufmerksam. Sie thematisieren strukturellen Rassismus erinnerungspolitisch vor der Folie des Kolonialismus und tragen damit zu einer Pluralisierung der historischen Erfahrungen in der Schweiz bei.
Die gesellschaftspolitische Relevanz des Themas trifft gleichzeitig auf eine Diversifizierung der Medienlandschaft. Public History spielt sich heute nicht mehr exklusiv in Kollektivmedien wie Museen, Fernsehen oder Printmedien ab, sondern immer mehr in individualisierten, digitalen Formaten. Webseiten und soziale Medien erweitern historisches Wissen, reagieren auf eine Bandbreite an Interessen und machen spezifische Erinnerungsangebote. Diesen Entwicklungen gilt es von Seiten der Geschichtswissenschaft Rechnung zu tragen, um die öffentliche Aushandlung der Erinnerung entscheidend mitzuprägen. Digitale Geschichtsvermittlung mit ihren vielfältigen Möglichkeiten erscheint geradezu ideal, um die hermetische Abgeschiedenheit des wissenschaftlichen Elfenbeinturms aufzubrechen, neue Brücken zwischen historischer Forschung und Öffentlichkeit zu schlagen und Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse zu schaffen. Nur durch eine plurale und breit verankerte Erinnerungskultur können die aktuellen Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens angegangen werden.
[1] Sebastian Conrad, «Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert», Merkur 867 (2021), S. 5–17.
[2] Christina Späti, «Die Schweiz und der Holocaust: Rezeption, Erinnerung und museale Repräsentation», in: Andrea Brait, Anja Früh (Hg.), Museen als Orte geschichtspolitischer Verhandlungen. Ethnografische und historische Museen im Wandel. Itinera: Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte 43 (2017), S. 61–76; Jakob Tanner, «Die Krise der Gedächtnisorte und die Havarie der Erinnerungspolitik. Zur Diskussion um das kollektive Gedächtnis und die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges», traverse. Zeitschrift für Geschichte 6 (1999) 1, S. 16–37.
[3] Astrid Erll, Kollektive Gedächtnis- und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2017.
[4] Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021; Natan Sznaider, Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus, München 2022.
[5] Der Begriff quartäre Medien wird in der Kommunikationswissenschaft zur Bezeichnung von internetbasierten Tertiärmedien verwendet, die durch ihre interaktiven Momente die Zuschreibung von Sender und Empfänger flexibilisieren. Roland Burkart, Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien 2021, S. 39.
[6] Paul Ashton, Paula Hamilton, History at the Crossroads. Australians and the Past, Sidney 2010.
[7] Meg Foster, «Online and Plugged In? Public History and Historians in the Digital Age», Public History Review 21, S. 1–19.
[8] Cauvin Thomas, Public History. A Textbook of Practice, New York 2016.
[9] Noemi Michel, «Sheepology. The Postcolonial Politics of Raceless Racism in Switzerland», Postcolonial Studies 18, 4 (2015) S. 410–426.
[10] Gloria Wekker, White Innocence. Paradoxes of Colonialism and Race, Durham 2016.
[11] Damit reagiert die Webseite auf die Konzepte von ‘silence‘ und ‚invisibility‘ in den Geschichtswissenschaften. Michel-Rolph Trouillot, Silencing the Past. Power and the Production of History, Boston 1995. Anne Firor Scott, «On Seeing and Not Seeing. A Case of Historical Invisibility», The Journal of American History 71, 1 (1984), S. 7–21.
[12] Peter Senge, John Sterman, «Systems Thinking and Organizational Learning. Acting Locally and Thinking Globally in the Organization of the Future», European Journal of Operational Research 59 (1992), S. 137–150.
[13] Johanna Forster, «Globale Geschichtsperspektiven und soziale Identifikation. Bildungstheoretische Überlegungen», in: Susanne Popp, Johanna Forster (Hg.), Curriculum Weltgeschichte. Interdisziplinäre Zugänge zu einem global orientierten Geschichtsunterricht, Schwalbach 2003, S. 105–121.
[14] Eleanor Hight, Gary Sampson, «Introduction. Photography, ‘Race’, and Post-Colonial Theory», in: Dies. (Hg.), Colonialist Photography. Imag(in)ing Race and Place, London, New York 2002, S. 1–19.
[15] Zur Theorie des «colonial gaze» siehe Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, New York 2008, im Original publiziert unter dem Titel Peau noire, masques plancs im Jahr 1952.
[16] Im Themendossier «Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet» auf dem online Nachschlagewerk visual-history.de werden Chancen und Problemen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von historischem Bildmaterial in Online-Umgebungen nachgegangen. Siehe dazu vor allem den Beitrag Matthias Harbeck, Moritz Strickert, «Freiwilligkeit und Zwang. Eine Diskussion im Kontext der frühen ethnologischen Fotografie», online: https://visual-history.de/2020/09/28/freiwilligkeit-und-zwang/ (19.10.2023). Siehe auch: Sophie Junge (Hg.), Den Blick erwidern. Fotografie und Kolonialismus. Fotogeschichte: Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 41, Heft 162 (2021).
[17] So argumentiert etwa auch die deutsche Historikerin und frühe Vertreterin der Visual History Forschung Annette Vowinckel im Zusammenhang mit visuellen Quellen des Kolonialismus in Schulbüchern, Dörte, «‘Visual History’ – Forschung. Neue Sicht auf alte Fotos», online: https://www.deutschlandfunk.de/visual-history-forschung-neue-sicht-auf-alte-fotos-100.html (19.10.2023).
[18] Das didaktische Prinzip der Exemplarität wurde programmatisch von Martin Wagenschein entwickelt. An Fallbeispielen sollen Schüler:innen etwas «Fundamentales» zu erfassen lernen, worauf über Transfer, Deduktion, Induktion oder Analogien auf das Allgemeine, auf Besonderheiten, Gleichheiten und Unterschiede geschlossen werden kann. Siehe Martin Wagenschein Martin, Verstehen lehren, Basel 1999.