Die Druckversion ist erschienen in: traverse 2/2024
Matthias Ruoss und Isabelle Schürch haben für traverse mit Prof. Dr. Julia Herzberg (Leipzig), Dr. Marie Huber (Marburg), Kathrin Meißner (Berlin), Janine Funke (Potsdam) und Dr. Claudia Roesch (Konstanz) gesprochen. Sie haben gemeinsam die Initiative #metoohistory gestartet, die Machtmissbrauch und sexuelle Belästigungen an Universitäten bekämpft.
traverse: Wir alle sind in unserem Berufsalltag mit Formen der Macht konfrontiert. Auch von Machtmissbrauch sind viele betroffen, oftmals bereits seit dem Studium, doch politisiert werden die Verhältnisse sehr selten. Während die arbeitsrechtlichen Missstände an Universitäten in den letzten Jahren immer wieder angeklagt wurden, zieht Machtmissbrauch, abgesehen von Einzelfällen, kaum nachhaltige Kritik auf sich. Was hat Sie dazu veranlasst, im Sommer 2023 die Initiative zu ergreifen und an die Öffentlichkeit zu gehen?
Janine Funke: Wir haben uns als Gruppe im August 2023 formiert. Die Initiative steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Fall an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Fall wurde in verschiedenen Zeitungen thematisiert, auch unser Mitglied Claudia Roesch hat ein Interview im Tagesspiegel gegeben.1
Anlass für das Interview war ein Screenshot auf «X» (ehemals Twitter). Dieser zeigte das offizielle Profil eines langjährigen Mitarbeiters und Dozenten mit dem Vermerk, dass «Studentinnen» nur in Begleitung der Frauenbeauftragten in dessen Sprechstunde gehen sollten. Daraufhin haben sich zahlreiche Betroffene geäussert, die übergriffiges Verhalten erfahren hatten, obwohl der Name des Dozenten nicht öffentlich genannt worden war. Die mediale Öffentlichkeit und die zahlreichen Äusserungen auf X haben so zu einem Momentum geführt, das die Aufmerksamkeit für sexuelle Übergriffe im universitären Kontext gesteigert hat. Das war Mitte Juli 2023. Uns allen war unabhängig voneinander klar, dass die nun geschaffene Aufmerksamkeit genutzt werden muss, zumal der Fall weit davon entfernt war, ein Einzelfall zu sein. Am Ende war es Marie Huber, die die Initiative ergriffen und einen Aufruf gestartet hat. So haben wir uns zusammengefunden und angefangen, uns auszutauschen, uns zu vernetzen und uns zu überlegen, wie wir aktiv werden können. Zuerst haben wir einen X-Account gegründet und den Hashtag #metoohistory ins Leben gerufen. Das war der Start der Initiative.
traverse: Wer Missbrauch anklagt, braucht viel Mut und ist auf Solidaritäten angewiesen. Wie sind Sie vorgegangen? Wie haben Sie sich zusammengefunden? Gab es auch Vorbehalte oder gar Widerstände?
Janine Funke: Also zuerst zu den Vorbehalten. Uns war von Anfang an klar, dass wir darauf achten müssen, dass wir uns rechtlich auf der sicheren Seite befinden. Die Frage war: Was können wir tun, ohne uns selbst zu gefährden? Einige von uns haben sich in der Öffentlichkeit geäussert, also auch mit Klarnamen und universitärer Affiliation. Das machte uns natürlich persönlich angreifbar. Aber wir sind überzeugt, dass eine mediale Öffentlichkeit die Voraussetzung ist, dass auch Betroffene den Mut finden, sich zu äussern.
traverse: Es gibt also rechtliche Bedenken. Wie sieht es aber aus mit Problemen, die direkt mit Macht und Machtmissbrauch verbunden sind, die unmittelbar mit dieser Positionierung in der Öffentlichkeit zu tun haben?
Janine Funke: Das betrifft uns alle anders, weil wir uns tatsächlich alle in unterschiedlichen akademischen Positionen befinden. Ich bin Wissenschaftsjournalistin. Das heisst, ich bin nicht mehr angebunden an eine Hochschule und ich bin nicht mehr abhängig von den dortigen Machtstrukturen. Im Hinterkopf bleibt aber schon die Frage, ob sich mein Engagement für #metoohistory auf meine Auftragslage auswirken könnte. Uns ist es deshalb wichtig, uns abzusprechen und immer wieder neu zu entscheiden, wie wir auftreten.
Marie Huber: Ich hingegen bin als Postdoc mit einer befristeten Stelle noch voll innerhalb des Wissenschaftssystems. Es ist zwar nicht so, dass aus dem wissenschaftlichen System jemand an mich herangetreten wäre und gesagt hätte: «Du, pass mal lieber auf!». Dennoch gab es abweisende Reaktionen aus dem Kolleg:innenkreis. Einige, von denen ich wusste, dass sie betroffen sind, haben sehr entschieden gesagt, dass sie sich auf keinen Fall äussern wollen. Die Begründungen waren unterschiedlich. Manche haben als Grund tatsächlich Angst angeführt und klar gesagt, dass sie sich nicht trauen würden, mit ihren persönlichen Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Andere wiederum haben gesagt, dass sie (endlich) ihre Ruhe haben möchten. Es hat mich schon erstaunt, wer still geblieben ist und wer nicht. Zu denken sollte uns jedoch geben, dass einige auch Zweifel äusserten an dem, was sie selbst gesehen, gehört oder erlebt haben. Das zeigt die grosse Unsicherheit, der Betroffene ausgesetzt sind.
traverse: Geschichtswissenschaftliches Arbeiten findet nicht im luftleeren Raum statt. Viele von uns Historiker:innen sind an Hochschulen tätig, und die sogenannte akademische Laufbahn schickt uns immer wieder auch an andere Institute. Die meisten Institute sind von vermachteten Strukturen geprägt, die Missbrauch in einem hierarchisch konzipierten Arbeitsumfeld fördern: das Lehrstuhlsystem, die Betreuungs- und Förderungsstruktur mit sogenannten Doktorvätern und -müttern (auf der einen und dem sogenannten Nachwuchs auf der anderen Seite), die befristeten Anstellungen in Projekten und Assistenzen. Wie beurteilen Sie die aktuelle universitäre Arbeitskultur?
Claudia Roesch: Sie sprechen mit den Hierarchien und Abhängigkeiten wichtige Probleme an, die Machtmissbrauch – sexualisierten Machtmissbrauch, aber auch Fälle von Mobbing und Ausgrenzung – begünstigen. Die Tatsache, dass der Vorgesetzte gleichzeitig der Betreuer ist, oder dass die Person, die die Noten für Abschlussarbeiten vergibt, gleichzeitig die Person ist, die auch entscheidet, ob ein Arbeitsvertrag verlängert wird, ist ein Problem. Wir haben es mit einem System zu tun, in dem es Positionen gibt, die mit sehr viel Macht ausgestattet sind. Im Fall des langjährigen Dozenten an der Humboldt-Universität ging es um sexuelle Belästigung. Seit den ersten Vorfällen sind gut 25 Jahre vergangen. Das heisst, das Problem war seit Langem bekannt. Sowohl vom Fachbereich als auch von der Universität wurde aber nur wenig unternommen. Diese Passivität ist Teil des Problems. Nur zu oft zeigt sich, dass – wie in diesem Fall – der Täter zwar nicht namentlich genannt wird, aber im Grunde jede:r genau weiss, um wen es geht. Personen haben einen bestimmten Ruf. Ich zum Beispiel habe im Zuge der #metoohistory-Initiative auch die Warnung erhalten, ich solle bei einer anderen beschuldigten Person vorsichtig sein, die Person nicht vorverurteilen, man könnte der Karriere der beschuldigten Person schaden usw. Das ist dann eher Täterschutz als Opferschutz. Die Gleichstellungsbeauftragten an universitären Fachbereichen sind oft selbst Mitarbeiter:innen in den betroffenen Instituten und übernehmen die Aufgabe im Zuge der akademischen Selbstverwaltung. Sie befinden sich teilweise in den gleichen Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen wie die Betroffenen. Ähnliches gilt für Kolleg:innen an ausseruniversitären Forschungsinstitutionen – auch dort gibt es teilweise die gleichen Machtstrukturen und auch dort stehen Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Vorgesetzten.
traverse: Kommen wir zu den universitären, aber vor allem auch fachwissenschaftlichen Problemstellen, die Sie identifizieren können. Haben die Geschichtswissenschaften als Fach ein spezifisches Problem mit Machtmissbrauch, bei dem wir zu oft wegsehen und -hören?
Claudia Roesch: Das ist eine Frage, die wir uns natürlich auch immer wieder stellen. Gerade die Geschichtswissenschaften sind ein Fach, das sich sehr stark mit Macht und Gewaltausübung und mit Formen von Marginalisierung beschäftigt. Selbstverständlich will ich nicht behaupten, dass Historiker:innen blind sind für die Strukturen im eigenen Feld. Die intellektuellen Voraussetzungen, diese zu erkennen, wären doch eigentlich gegeben. Dies war mitunter einer der Gründe, warum es uns wichtig war, #metoohistory auf dem Deutschen Historikertag 2023 in Leipzig einzubringen (mehr dazu unten, Anmerkung der Redaktion).
Kathrin Meißner: Ich glaube, wir müssen die Frage anders stellen und Machtmissbrauch als strukturelles Problem betrachten, und zwar generell in den Geschichtswissenschaften. Genau das zeigen die Fälle, die publik geworden sind und jetzt diskutiert werden. Es betrifft zwar die Geschichtswissenschaften, aber eben auch andere Disziplinen und das universitäre System im Allgemeinen. Für die Geschichtswissenschaften muss man auf jeden Fall zu bedenken geben, dass Habilitation, monografische Publikationskultur und verbreitete Individualforschung sicherlich nicht förderlich sind, da es professorale Lehrstuhlstrukturen und Karriereausrichtung zementiert. Ein weiterer Aspekt, den es aber auch in anderen Fachkulturen gibt, sind die Teilfächer innerhalb der Geschichtswissenschaften. Diese erlauben es einem begrenzten Personenkreis, Hierarchien aufzubauen und Macht anzuhäufen. Insgesamt kommt also sehr viel zusammen, was die Wahrscheinlichkeit von (sexualisiertem) Machtmissbrauch erhöht. Deshalb ist es uns wichtig, eine grössere Transparenz und Sichtbarkeit für strukturelle Probleme zu schaffen.
Marie Huber: Ich möchte hier die Frage nochmals aufwerfen, von der ich mir wünschen würde, dass sie mehr im Vordergrund stünde: Warum melden sich gerade Historiker:innen, die sich eigentlich aus fachlichem Interesse berufen fühlen sollten, so wenig zu Wort, wenn es um Machtmissbrauch in der eigenen Disziplin geht? Dass wir uns als wissenschaftliche Disziplin mit strukturellen Problemen beschäftigen, ist das eine. Etwas anderes ist es, nach dem Rahmen unserer Fachkulturen zu fragen: Welche Gepflogenheiten haben wir? Wie arbeiten wir eigentlich? Wie gestalten sich bei uns Abschlussfeiern, Kongresse und so weiter? Wo entstehen Räume für Machtmissbrauch? Solche Fragen müssten im Hinblick auf Prävention genauer angegangen werden.
traverse: Blicken wir auf die Zahlen von Studierenden, Mittelbauangehörigen und Professuren, zeigt sich nach wie vor eine klare Tendenz: Während das Verhältnis der Geschlechter im Studium und in der sogenannten Nachwuchsförderung ausgeglichener geworden ist, sind Lehrstühle für Geschichte überproportional männlich besetzt. Ist die Disziplin besonders stark patriarchal organisiert und wenn ja, warum?
Julia Herzberg: Diese Schere haben wir auch in anderen Fächern. Ich glaube nicht, dass Geschichtswissenschaften besonders patriarchal organisiert sind, aber sie sind es. Das liegt daran, dass die Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft prekär sind und es sehr lange dauert, bis man, wenn überhaupt, auf eine unbefristete Stelle kommt. Das können sich Historikerinnen mit Familien- und Care-Verpflichtungen kaum leisten. Dass diese Arbeiten mehrheitlich immer noch von Frauen geleistet werden, ist belegt. Das heisst wiederum auch, dass Frauen häufiger aus der Wissenschaft aussteigen als Männer.
Kathrin Meißner: Neben den prekären Arbeitsbedingungen möchte ich darauf hinweisen, dass die Publikationskultur den Gender Gap vergrössert. Die Art und Weise, wie in der Geschichte publiziert wird – nämlich in Büchern oder Sammelbänden, meist in Einzelautor:innenschaft und stark anhängig von Verlagshäusern –, verlangt sowohl ein hohes Mass an Verfügbarkeit und zeitlichen Ressourcen als auch an Netzwerken.
Marie Huber: Auch ich erlebe die Geschichte als ein Fach, in dem vorausgesetzt wird, dass man zeitlich verfügbar ist, was der Lebensrealität von Frauen widerspricht. Bücher schreiben ist das eine. Das andere ist die Mobilität. Damit meine ich nicht nur die Konferenzen, sondern auch Auslandsaufenthalte, die ständigen Stellenwechsel vor und nach dem Doktorat. Wir wechseln zwei-, drei-, viermal die Stelle, was in der Regel mit einem Umzug verbunden ist. Dazu kommen Archiv- und Forschungsaufenthalte. Wir arbeiten in einem disziplinären Umfeld, das die Lebensrealitäten von Frauen weitgehend ausblendet, und das in einem grösseren Mass, als ich das in anderen Fächern wahrnehme. Das muss sich ändern.
traverse: Kommen wir auf die Anliegen der Initiative zu sprechen. Wie Ihre Initiative deutlich macht, gibt es eine Vielzahl von unterschiedlich gelagerten Fällen von Machtmissbrauch an Universitäten, auch in der Schweiz. Wo setzen sie mit der Initiative den Schwerpunkt?
Marie Huber: Wir wollen mit unserer Initiative eine Plattform schaffen. Nur so ist es möglich, dass sich Akteure aus ganz unterschiedlichen Karrierestufen (Studierende, Doktorierende, Professor:innen, Verbände und Institutionen) vernetzen können und miteinander ins Gespräch kommen. Das ist ein Kernanliegen unserer Initiative. Wir möchten aber auch festhalten, dass es eine Initiative ist, die aus einer akuten Situation mit hoher Dringlichkeit entstanden ist. Erst jetzt kommen wir in die Konstitutionsphase. Im Gespräch ist ja bereits deutlich geworden, dass unsere Disziplin sehr heterogen ist. Das trifft auch auf die Vernetzungen zu. Die Zusammenführung unterschiedlicher Netzwerke ist ein grosser Erfolg unserer Initiative. Gleichzeitig haben wir auch gemerkt, dass es wichtig ist, Wissen über Initiativen aus anderen Disziplinen weiterzugeben. Wir schaffen also eine dringend notwendige Schnittstelle, die bislang in der Form gefehlt hat. Und schliesslich ist uns die Sichtbarkeit des Themas sehr wichtig. Über sexualisierten Missbrauch soll und muss gesprochen werden. Wir wollen aber nicht nur, dass mehr geredet wird, sondern dass transparenter, vertrauensvoller und respektvoller über das Thema gesprochen wird. Wir wollen eine neue Kommunikationskultur etablieren. Und nicht zuletzt wollen wir Entscheidungsträger:innen zum Handeln anregen und aufrütteln.
traverse: Sie haben vor allem die Funktion und den Zweck der Initiative ausgeführt. Wenn wir aber die Chronologie im Auge behalten, stellt sich eine programmatische Anschlussfrage: Geht es der Initiative spezifisch um sexualisierte Gewalt oder ganz allgemein um die Thematisierung von Machtmissbrauch?
Marie Huber: Diese Frage nach der Unterscheidung ist durchaus berechtigt. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass sich diese Trennung nicht so scharf aufrechterhalten lässt. Ich denke, dass es wichtige Gründe gibt, warum verschiedene Arten des Machtmissbrauchs unterschieden werden. Das ist aber nicht unsere Aufgabe. Mit unserer Initiative geht es uns darum, eine Öffentlichkeit herzustellen und Ansprechpartnerin für betroffene Menschen zu sein. Menschen, die sich von #metoohistory angesprochen fühlen, würde ich nicht vorschreiben wollen, in welchen Fällen sie sich melden sollen. Denn es zeigt sich oft, dass sich Formen von Übergriffen und Machtmissbrauch überlappen oder auf eine Art und Weise zusammenhängen, die sich erst erschliesst, wenn man die Fälle genauer kennt und versteht.
Kathrin Meißner: Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass wir es oft mit verschiedenen Eskalationsstufen zu tun haben. Sexualisierte Gewalt ist die Form, die am meisten als übergriffiges und nicht mehr ignorierbares Fehlverhalten wahrgenommen wird. Das Bewusstsein für andere Bereiche von Machtmissbrauch ist hingegen weniger ausgeprägt. Selbst bei Fällen von sexualisierter Gewalt merkt man, dass es zuerst zu eklatanten Überschreitungen kommen muss, damit etwas passiert. Grundsätzlich fehlt es an fachkultureller wie gesellschaftlicher Sensibilisierung, besonders für Dimensionen und Praktiken von Machtmissbrauch.
Julia Herzberg: Machtmissbrauch wird in den Diskussionen häufig auf sexualisierte Gewalt und Übergriffe reduziert. Das ist aber leider auch eine Möglichkeit, um Meldungen von Machtmissbrauch an Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte auszulagern. Damit wird es zu einem «Frauenthema». In dieser Logik wird aber Machtmissbrauch marginalisiert, was ich als sehr problematisch sehe. Deshalb ist es uns wichtig, von einem komplexen Begriff von Machtmissbrauch auszugehen.
traverse: Inwiefern verstehen Sie die Initiative auch als Kritik an den universitären Gleichstellungspolitiken oder den mangelhaften Bemühungen, sexualisierte Gewalt oder Machtmissbrauch «in-house» zu bekämpfen? Oder anders gefragt: Richtet sich die Initiative vor allem an Universitäten und Hochschulen oder auch an eine breitere gesellschaftliche Öffentlichkeit?
Kathrin Meißner: In dieser Frage möchten wir uns noch nicht definitiv festlegen. Wir sind, das möchten wir noch einmal festhalten, erst in der Konstituierungsphase. Klar ist, dass es sich auf jeden Fall um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. Ich persönlich bin hochschulpolitisch aktiv und es ist mir wichtig, dass Leute in Führungspositionen, sprich Hochschulleitungen und Lehrstuhlinhaber:innen, eine Verantwortung haben, aus der sich eine Fürsorgepflicht ableiten lässt. Es ist daher zu leicht, mit dem Finger auf bestimmte Einzelpersonen zu zeigen. Man muss immer auch die systemischen Probleme im Blick haben und die Gesamtstruktur adressieren.
Marie Huber: Wir sehen uns vor allen Dingen als Impulsgeberinnen. Mich hat aber am Anfang erstaunt, wie viel Forschung und Wissen zu Machtmissbrauch in der Wissenschaft es eigentlich schon gibt. In Deutschland gibt es das «Netzwerk Machtmissbrauch in der Wissenschaft».2
Auch die Bundeskonferenz der Frauenbeauftragten weist schon lange darauf hin, dass die Problematik bei den Frauenbeauftragten nicht gut aufgehoben ist, weil sie keine Weisungskompetenz haben.3 Natürlich sind es wichtige Stellen, denen man sich anvertrauen kann und die individuell hilfreiche Beratung anbieten. Die Frauenbeauftragte kann aber nicht personalrechtlich Einfluss nehmen. Aus Gesprächen mit Professor:innen habe ich den Eindruck gewonnen, dass ihnen gar nicht klar ist, dass eine Frauenbeauftragte nicht veranlassen kann, dass jemand entlassen oder ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird. Das kann nur der:die Dienstvorgesetzte, also etwa eine geschäftsführende Direktorin, eine Dekanin, eine Unipräsidentin oder – wie im Land Berlin – eine Wissenschaftssenatorin. Kompetenzfragen bei Entscheidungs- und Personalverantwortung sind oft nicht geklärt bzw. unbekannt. Wann und in welchen Fällen gibt es eine Melde- oder Reaktionspflicht? Wie ist das Vorgehen? Wie sollte man auf Flurgerüchte reagieren? Sobald es Hinweise auf sexualisierten Missbrauch und Übergriffe gibt, muss eigentlich immer ein Vorgang zur Überprüfung eingeleitet werden. Da gibt es klare Regeln. Wenn Leute an uns herantreten und fragen, wo sie sich informieren können, dann verweisen wir sie an die entsprechenden Websites, Links und Anlaufstellen. Unser Impuls muss sein: Bestehende Strukturen müssen besser genutzt werden.
traverse: Der Fall an der HU Berlin fällt unter anderem dadurch auf, dass die Anschuldigungen bis in die späten 1990er-Jahre zurückreichen. Es gab zwar Coping-Strategien, wie etwa «whisper networks», also das hinter vorgehaltener Hand weitergegebene «Wissen» über Täter. Solche informellen Netzwerke sind wichtig, gleichzeitig greifen sie nur innerhalb von bestimmten sozialen Gruppen und «in den Gängen». Wo sehen Sie griffige Coping-Strategien, die einen Teil der Last von den Betroffenen wegnehmen könnten? Und wie müssen die patriarchal organisierten Machtverhältnisse geändert werden, dass die Coping-Strategien letztlich überflüssig werden?
Julia Herzberg: Wir müssen wegkommen von Coping-Strategien und das Problem systemisch begreifen und strukturell angehen. Unserer Ansicht nach müssen wir auf drei Ebenen Massnahmen ergreifen. Das ist erstens die asymmetrische Machtverteilung im Hochschulkontext, die Machtmissbrauch begünstigt. Da spielen auch die engen Befristungsregeln und die Mehrfachabhängigkeiten in Anstellungs- und Betreuungsverhältnissen eine zentrale Rolle. Das bedeutet auch, dass die Abhängigkeit von Empfehlungsschreiben und Gutachten reduziert werden muss. So sollte es etwa möglich werden, bei Anträgen Personen von Gutachten auszuschliessen. Zweitens sollten Sanktionen als Schutzmassnahme durchgesetzt werden. Machtmissbrauch widerspricht den Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis und ist deshalb zu ahnden. Es ist bekannt, dass Selbstverpflichtungserklärungen bisher wenig zur Prävention von Machtmissbrauch beigetragen haben. Wir müssen also die Sanktionierungspraxis stärken. Das bedeutet aber auch, dass wir unabhängige Stellen brauchen, die Betroffene beraten und die Verfahren unabhängig führen können. Dafür müssen Befugnisse und Ressourcen bereitgestellt werden. Konkret ist unser Vorschlag, diese Anlaufstellen innerhalb von Universitäten auf einer höheren institutionellen Ebenen anzuordnen. Häufig melden Betroffene Vorfälle nicht, weil sie die handlungsfähigen Ansprechpersonen und Stellen nicht kennen. Und drittens schliesslich möchten wir Personen, die Machtmissbrauch beobachten, auffordern, solidarisch zu agieren. Wir alle haben eine Pflicht einzugreifen und uns auf die Seite der Betroffenen zu stellen. Das ist für Personen, die selbst abhängig sind, gar nicht so einfach. Hierarchisch strukturierte Abhängigkeiten erzeugen ein Klima der Angst, das Schweigen und Wegschauen fördert. Für Personen, die nicht in irgendeiner persönlichen Abhängigkeit stehen, also entfristete Professor:innen, Institutsleiter:innen etc., gilt es, ihre Verantwortung und Fürsorgepflicht wahrzunehmen. Sie sollten unserer Ansicht nach Täter:innen zur Rede stellen und selbst Veränderungen an ihren Institutionen einfordern. Eine unserer konkreten Forderungen ist: Keine Kooperationen mit Täter:innen. Und schliesslich müssen sich auch die Fachgesellschaften Gedanken machen, wie sie ihre Verantwortung wahrnehmen. Sie sollten dem Thema mehr Aufmerksamkeit schenken und es von sich aus thematisieren. Nach wie vor müssen die Betroffenen vor allem selbst handeln. Das darf nicht so bleiben.
traverse: Wie kann jede:r von uns einen Beitrag leisten?
Julia Herzberg: Wir dürfen uns nicht an den Schweigespiralen beteiligen. Eine Person, die Machtmissbrauch erlebt, ist oft sehr schnell sehr einsam. Deshalb ist es wichtig, ins Gespräch mit Betroffenen zu kommen und ihnen zu versichern, dass das, was sie erleben, auch von anderen als falsch und missbräuchlich wahrgenommen wird. Wir müssen über Vorfälle sprechen, wir müssen sie benennen und wir müssen vor allem auch für die Betroffenen einstehen, die selbst nicht handeln können.
Kathrin Meißner: Ich schliesse mich dem Gesagten an. Da ich selber aus der Perspektive einer Promovierenden auf Machtmissbrauch schaue, möchte ich ergänzen, dass es gerade für junge Wissenschaftler:innen, aber auch für Studierende, entscheidend ist, dass etablierte Wissenschaftler:innen klarstellen, dass (sexualisierter) Machtmissbrauch nicht geduldet wird, dass es dafür keinen Platz gibt. Je weniger man ein Institut kennt, desto vulnerabler ist man. Gerade bei internationalen Austauschstudierenden, Gastwissenschaftler:innen oder Wissenschaftler:innen, die nur assoziiert sind, besteht die Gefahr, dass sie sich weder an Bekannte wenden können noch wissen, welche Anlaufstellen existieren. Solche Mängel können beispielsweise durch strukturierte Mentoring-Formate aufgefangen werden. Letztlich sollten die Informationen aber unterschwellig in jeder Lehrveranstaltung kommuniziert werden. Grundlegend braucht es die räumlich wie diskursiv sichtbare Auseinandersetzung mit strukturellen Abhängigkeiten, sodass eine aufmerksame, sensibilisierte und solidarische Arbeitskultur entstehen kann, die Machtmissbrauch vorbeugt.
Marie Huber: Wir sehen, dass zurzeit viele Personen aktiv werden wollen. Erwartungsgemäss kommt dieses Bedürfnis besonders aus dem Mittelbau. Ich bin der Meinung, dass Machtmissbrauch aber immer auch Chef:innensache sein muss. Wenn sich jetzt Arbeitsgruppen und lokale Initiativen bilden, dann sollten die Institutsleiter:innen dabei sein. So wird eine klare und wirkungsvolle Botschaft gesendet. Zudem führt der Dialog zwischen Studierenden, Mittelbauangehörigen, Professor:innen und Institutsleiter:innen dazu, dass unterschiedliche Perspektiven mit in den Prozess einfliessen. Nur so kann eine konstruktive, wirkungsvolle und achtsame Fachkultur entstehen. Es kann auch sinnvoll sein, eine:n externe:n Trainer:in einzuladen. Wir führen eine Liste mit Kontakten zu Expert:innen für Missbrauchsprävention.
traverse: Die Initiative ist jetzt mehrere Monate alt. Wir haben darüber gesprochen, wie Sie es in kürzester Zeit geschafft haben, eine neue Öffentlichkeit herzustellen und ein altbekanntes Problem zu politisieren. Welche Wirkungen konnten Sie darüber hinaus in der Fachöffentlichkeit erziehen und wie war die mediale Resonanz auf die Initiative?
Marie Huber: Zunächst hatten wir ein sehr schnelles Wachstum in den sozialen Medien. Nachdem wir den X-Account gegründet hatten, bekamen wir innerhalb weniger Tage über 1.000 Follower. Das war überwältigend, hat uns Rückenwind gegeben und uns ermutigt. Es zeigte sich schnell, dass beim Thema «sexualisierter Machtmissbrauch» ein immenses Austauschbedürfnis besteht. Darüber hinaus braucht es einen Ort, an dem die aktuelle Berichterstattung zusammengezogen wird und die Auseinandersetzung verfolgt werden kann. Dabei war es uns wichtig, an eine breitere gesellschaftliche Debatte anzuknüpfen – darum auch der Hashtag #metoohistory. Während in anderen Bereichen wie der Unterhaltungsindustrie die Thematisierung von Machtmissbrauch schon etabliert ist, hinkt sie im universitär-akademischen Umfeld hinterher. Das erstaunt doch sehr. Mit dem öffentlichen Auftreten machten wir uns viele Gedanken über unsere Kommunikationsstrategie. Im Hintergrund haben wir intensiv darüber diskutiert, wie wir einen bestimmten Post schreiben oder wie wir einen bestimmten Tweet absetzen wollen. So gesehen würde ich es als Erfolg verbuchen, dass wir es mit unserer Kommunikation geschafft haben, dass sich so viele Leute angesprochen gefühlt und sich getraut haben, sich zu melden. Zugleich sehe ich uns aber nicht als Konkurrenz zu Frauenbeauftragten, anonymen Meldestellen oder Ombudsstellen. Es braucht ein vielfältiges und breites Angebot, das unterschiedlich hoch- und niedrigschwellig ist, so dass sich Betroffene aussuchen können, was sich für sie passend anfühlt.
Als grössten Erfolg würde ich aber unsere bereits erwähnte Veranstaltung auf dem Deutschen Historikertag 2023 in Leipzig bezeichnen. Wir haben dafür relativ kurzfristig eine Diskussionsrunde mit den beiden Vorsitzenden des Historiker:innenverbands, Fachleuten und einer Studierendenvertreterin organisiert. Die Veranstaltung wurde ein Publikumserfolg. Der für unsere Hybridveranstaltung reservierte Seminarraum für 40 Personen war innerhalb von wenigen Minuten überfüllt. Wir mussten kurzfristig in einen grossen Vorlesungssaal für mehrere hundert Personen umziehen. Online haben sich ebenfalls nochmals 170 Personen dazugeschaltet. Wenn man bedenkt, dass der Historiker:innenverband ca. 3.000 Mitglieder hat, waren über 10% mit dabei. Auch fachintern ermöglichte es uns dieser Anlass, zusammen mit dem Psychologen Daniel Leising das Thema im Rahmen eines Podcasts für H-Soz-Kult weiter zu vertiefen.4
traverse: Dazu gleich eine Anschlussfrage: Was den Zuspruch und die Solidaritätsbekundungen angeht, verlaufen die eher entlang der Hierarchien? Oder hat der Zuspruch ein Geschlecht?
Kathrin Meißner: Die Veranstaltung auf dem Historikertag hat uns gezeigt, dass sexualisierter Machtmissbrauch ein Thema ist, welches das gesamte Fach betrifft und umtreibt. Sowohl Studierende als auch Promovierende, Postdocs und Professor:innen haben sich an der Veranstaltung beteiligt oder sind im Nachgang auf uns zugekommen. Es zeigte sich aber auch: Vor allem Frauen haben die Veranstaltung besucht. Das liegt daran, dass Wissenschaftlerinnen stärker von sexualisiertem Machtmissbrauch betroffen sind, sich eher mit dem Thema beschäftigen und in ihren «whisper networks» darüber sprechen. Mein Eindruck ist, dass vielen Kollegen die Brisanz des Themas nicht bewusst war. Gerade der Erfahrungsbericht der Studentin auf dem Panel hat diesen Punkt deutlich gemacht.
Julia Herzberg: Mein Eindruck war, dass das Thema vor allem Doktorand:innen, Postdocs und jüngeren Professor:innen am Herzen liegt.
traverse: Bisher ging es um Zuspruch und Solidaritäten. Wie sieht es mit der Kehrseite aus? Wer Machtmissbrauch thematisiert, erfährt Gegenwind. Haben Sie auch negative Rückmeldungen erhalten? Wurden Sie angefeindet?
Marie Huber: Ich bin ein eher vorsichtiger Mensch und habe mich von Anfang an nicht als Aktivistin verstanden. Uns allen ist es wichtig, dass wir uns nicht auf einzelne Fälle und Personen einschiessen. Wir wurden im Vorfeld zum Historikertag immer wieder gefragt, ob wir die bislang bekannten konkreten Fälle thematisieren werden. Für uns war klar: Das wäre ziemlich unangemessen. Wir wollen dem Thema Machtmissbrauch eine Öffentlichkeit verschaffen. Dagegen kann man eigentlich nichts haben. In den Medien war die Resonanz auf unsere Veranstaltung am Historikertag jedoch gering. Die anwesenden Reporter:innen befassten sich primär mit den Veranstaltungen zur deutschen Erinnerungskultur oder zum Ukrainekonflikt. Einzig der Deutschlandfunk Kultur interessierte sich, wo ich ein Interview geben konnte.5
Neben anerkennenden Randnotizen gab es jedoch auch einen kleinen Meinungsbeitrag in der FAZ, den man als Verriss unserer Veranstaltung bezeichnen kann.
Claudia Roesch: Persönlich habe ich keinerlei negative Äusserungen, keinerlei Kritik bekommen. Im Vorfeld gab es jedoch ein paar Warnungen aus meinem beruflichen Umfeld, dass ich vorsichtig sein soll, bestimmte Personen nicht vorverurteilen und mich nicht zu Einzelfällen äussern soll.
traverse: Zum Schluss interessiert es uns natürlich, wie es weitergehen soll. Was sind die nächsten Schritte?
Kathrin Meißner: Wir verständigen uns tatsächlich gerade, wie wir weiterarbeiten wollen und können. Wir sind alle berufstätig, das Engagement für #metoohistory ist ehrenamtlich. Wir müssen uns neben den inhaltlichen Schwerpunkten überlegen, wie wir die Arbeiten so erledigen können, dass sie sich weiterhin mit unseren akademischen Verpflichtungen vereinbaren lassen. Zudem stellt sich die Frage, welche Infrastrukturen wir brauchen, um als unabhängige Initiative arbeiten können. Darüber hinaus gibt es eine Reihe offener Fragen. Wie kommunizieren wir das Thema weiter und erreichen ein breiteres Publikum? Wie positionieren wir uns als Initiative, wie als Einzelpersonen? Wie sichern wir uns rechtlich ab? Welche Expertise können wir einbringen, und welche Expertise haben andere? Wie können wir uns weiter vernetzen?
Marie Huber: Zum Schluss möchte ich noch auf ein konkretes Resultat unserer Initiative hinweisen. Der Historikerverband hat bei der Mitgliederversammlung in Leipzig die Einrichtung eines fachethischen Ausschusses beschlossen, der sich unter anderem mit Fragen des Machtmissbrauchs beschäftigen wird. Das begrüssen wir sehr. Wir bleiben aber eine unabhängige Plattform, die gegen Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt kämpft.
Anmerkung der Redaktion
Hast Du sexualisierte Gewalt erfahren oder bist Du von Machtmissbrauch betroffen? Hier findest Du Anlaufstellen an deiner Hochschule: https://universities-against-harassment.ch/.
Und unter folgendem Link kommst Du direkt auf ein ausseruniversitäres online-Beratungsangebot: https://belaestigt.ch/.
- https://www.tagesspiegel.de/wissen/vorwurfe-gegen-dozenten-an-der-hu-berlin-er-fragte-ob-ich-mich-fur-ihn-ausziehen-wurde-10221028.html (21.3.2024). ↩︎
- Siehe dazu die Homepage des Netzwerks gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft: https://www.netzwerk-mawi.de (20.3.2024). ↩︎
- Siehe dazu das von der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen e.V: (bukof) herausgegebene Positionspapier zu geschlechtergerechter Hochschulpolitik: https://bukof.de (20.3.2024). ↩︎
- Machtmissbrauch in der Wissenschaft & metoohistory – Folge 8 des H-Soz-Kult-Podcasts, in: H-Soz-Kult, 01.10.2023, online zugänglich: https://www.hsozkult.de/webnews/id/webnews-139036 (20.3.2024). ↩︎
- https://www.deutschlandfunkkultur.de/metoohistory-sexuelle-uebergriffigkeit-in-den-wissenschaften-dlf-kultur-d56fc1c7-100.html (24.3.2024) ↩︎