Helvécia, Brazil

Das Titelbild des Heftes «Natur» wurde von Denise Bertschi im Rahmen ihres Doktoratsprojekts (EPFL, Laboratoire des Arts et des Sciences) gestaltet, das die komplexen kolonialen Verbindungen zwischen Neuchâtel und «Helvécia» in Bahia, Brasilien, durch das Prisma der visuellen und materiellen Kultur erforscht.

Obwohl Landschaften den Betrachtenden ihre komplexen Geschichten nicht immer offenbaren, tragen sie, so Bertschi, die Geschichten des Bodens und seiner mehrschichtigen Transformationen als Palimpsest von Zeit und Raum in sich. Es sind diese sichtbaren und unsichtbaren Zeichen eines Urbanisierungsprozesses der Natur durch menschlichen Eingriff, welche Bertschi auch anhand künstlerischer Forschungsmethoden befragt.

In dieser Hinsicht zeugt das Gebiet um «Helvécia» im Süden Bahias von der globalen Geschichte des Kolonialismus und den nach wie vor bestehenden Verbindungen zur Schweiz. Die helvetische Plantokratie, hauptsächlich Familien aus der Region Neuchâtel, rodete zu Beginn des 19. Jahrhunderts grosse Flächen der Mata Atlântica und nutzte dabei Zwangsarbeit der lokalen indigenen Bevölkerung. Die Schweizer und Schweizerinnen bewirtschafteten ihre Kaffeeplantagen mit der Arbeitskraft von über 2000 versklavten afrikanischen und afrikanischstämmigen Männern, Frauen und Kindern. Mehr noch, die Schweizer Behörden wurden auch selbst zum kolonialen Akteur, denn eines der ersten Konsulate der Schweiz wurde 1834 in Bahia und 1861 in der Kolonie (Colônia Leopoldina genannt) selbst eingerichtet, um die Interessen der Schweizer Plantagenbesitzer:innen zu schützen und sie bei ihren Kolonialisierungsbemühungen zu unterstützen. 

«Helvécia, Brazil», Denise Bertschi, analoge Fotografie, 2017, (c) Denise Bertschi

Heute hat die Monokultur von Eukalyptusbäumen die früheren Kaffeeplantagen fast vollständig verdrängt. Die Schweizer Plantagen auf Colônia Leopoldina, ein Beispiel von racial capitalism[1] des 19. Jahrhunderts, wurden durch das multinationale Unternehmen Suzano ersetzt, ein brasilianisches Papier- und Zellstoffunternehmen, das schnell wachsende gentechnisch optimierte Eukalyptusbäume kultiviert. Indem dieses Unternehmen, wie auch schon die Kaffeeplantagen des 19. Jahrhunderts, ein lebendiges Ökosystem durch eine «operational landscape»[2] ersetzt, macht es die Natur zur Ware und führt so zu ihrer Ausbeutung. 

Die aufeinanderfolgenden kapitalistischen Praktiken haben das atlantische tropische Ökosystem in der Region um «Helvécia» und die damit verbundene sozioökonomische Ordnung zerstört. Die Quilombo «Helvécia», eine Gemeinschaft von Nachkommen ehemaliger versklavter Personen, ist auch heute noch in dieser Region angesiedelt. Die Frauen, welche die Quilombo-Gemeinschaft stark prägen, bezeichnen ihre Arbeits- und Lebensbedingungen als «neokolonial», ähnlich den Arbeitsbedingungen ihrer Vorfahr:innen, die auf den Schweizer Kaffeeplantagen lebten.[3] Wie diese versuchen sie, sowohl den Schwierigkeiten ihrer Lebensbedingungen als auch der kapitalistischen Überausbeutung der Natur im «plantationocene»[4] zu trotzen.


Empfohlene Zitierweise/Suggested citation

Denise Bertschi, «Helvécia, Brazil», traverse 31/1 (2024), online+, revue-traverse.ch/helvecia-brazil/.


Mehr Infos:

Denise Bertschi, «Gaping Absences. Where is Helvécia?», in Denise Bertschi, Julien Lafontaine, Nitin Bathla (Hg.), Unearthing Traces. Dismantling imperialist entanglements of archives, landscapes, and the built environment, Lausanne 2023, 141–163.
Denise Bertschi, Strata. Mining Silence, Zürich 2020.
www.denisebertschi.ch

Ausstellungen: 
Aargauer Kunsthaus, Denise Bertschi Manor Kunstpreis 2020, Einzelausstellung, 2020.
Landesmuseum Zürich, Im Wald. Eine Kulturgeschichte, 2022.

Demnächst: 
Denise Bertschi, Spatial Convers(i)or, Einzelausstellung, Centre d’Art de Neuchâtel, Sept. 2024.
Landesmuseum Zürich, kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz, Historische Ausstellung mit Bertschis Werken zu Helvécia, Sept. 2024.


[1] Cedric J. Robinson, Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill 2000.

[2] Neil Brenner und Nikos Katsikis, «Operational Landscapes. Hinterlands of the Capitalocene», in Ed Wall (Hg.), The Landscapists. Redefining Landscape Relations, Wiley 2020, 23–31.

[3] Dies geht aus Interviews mit den Initiatorinnen der «Quilombo» von «Helvécia» hervor, welche Denise Bertschi im Februar 2017 führte.

[4] Gregg Mitman, «Reflections on the Plantationocene. A Conversation with Donna Haraway and Anna Tsing», Edge Effects Magazine, 18.6.2019, https://edgeeffects.net/haraway-tsing-plantationocene (17.11.2023).




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