Wann galt ein Kind oder Jugendlicher in der Frühen Neuzeit als behindert? Was waren die Folgen einer solchen Behinderung? Wer war für sie zuständig und wie wurden sie betreut? Diesen Fragen geht der Artikel anhand der Aufzeichnungen in frühneuzeitlichen Hospitalakten nach. In der Praxis der untersuchten Quellen umfasst die Vorstellung von Behinderung vor allem die Kriterien der Unheilbarkeit und der Armut. Unheilbarkeit wurde von Medizinern aufgrund ihrer Erfahrung und persönlichen Einschätzung diagnostiziert. Die ökonomische Situation hingegen wurde von Behördenvertretern beurteilt. So war «Behinderung» vor allem ein kulturelles Konzept, innerhalb dessen eine Unterscheidung von körperlichen und sozialen Aspekten kaum notwendig erschien. Solange Kinder sich nicht selbst durchbringen mussten, spielte ihre körperliche Beeinträchtigung kaum ein Rolle. Körperlich behinderte Kinder waren gut in die Gesellschaft integriert, nahmen Bildungsangebote wahr und erhielten emotionale Zuneigung der Angehörigen. Die wenigen Egodokumente legen den Schluss nahe, dass körperlich Behinderte ihre Behinderung nicht als zentrales Merkmal wahrnahmen. Sie litten stark darunter, anderen zur Last zu fallen. Je älter aber sie wurden, desto stärker fiel die fehlende Arbeitskraft ins Gewicht. Die Situation der geistig Behinderten unterschied sich deutlich von derjenigen der körperlichen Behinderten: Neben der Belastung der einzelnen Familie gingen von einigen Geisteskranken auch Gefahren für die soziale Gemeinschaft aus. In derartigen Fälle hatte das Hospital die Funktion einer Verwahrung zum Schutze der Gesellschaft.
«Die der Welt und sich selbst zur Last sind». Behinderte Kinder und Jugendliche in der Frühen Neuzeit
Erschienen in: traverse 2006/3, S. 73