Der «Muni-Krieg». Stiersperma und der Wandel der Zeit-Räume in der Viehzucht im 20. Jahrhundert


Ein Blick in die Geschichte des Stierspermas und insbesondere auf die Technik der künstlichen Besamung (KB) zeigt exemplarisch die Verwandlung einer natürlichen Ressource von einem lokalen in einen überregional respektive schliesslich global verfügbaren Rohstoff. Neben diesen räumlichen Implikationen manifestieren sich im Stiersperma auch zeitliche Transformationsprozesse. So veränderten neue Aufbewahrungsmöglichkeiten im Verbund mit der elektronischen Datenverarbeitung und der quantitativen Genetik das Stiersperma in einen die Zeit überdauernden Stoff; dessen Verwendung nun nicht mehr vom Individuum abhing, sondern mit der gesamten Population vor Augen errechnet wurde. Dies veränderte die Aufmerksamkeitsmuster der Viehzüchter. Sie orientieren sich seit den 1960er-Jahren weniger an den Ahnen und der Vergangenheit, als vielmehr an der Zukunft und den Nachkommen. Diese Veränderungen der Züchtungskulturen vollzogen sich jedoch keineswegs konfliktfrei. Die KB war lange Zeit bewilligungspflichtig und löste unter anderem den «Muni-Krieg» aus. Schliesslich unterminierte das tiefgefrorene Stiersperma auch die «Rassengrenzen» in der Viehzucht und führte – nach dem «Guerre des vaches» – dazu, dass die 1944 in der Schweiz eingeführten und Ende der 1960er Jahre aufgehobenen Rassengrenzen inzwischen teilweise bereits im Sperma selbst verwischt sind.

Erschienen in: traverse 2014/2, S. 77