Zwischen Biographie und Kollektiv. Charlotte Olivier-von Mayer (1864-1945) und der Kampf gegen die Tuberkulose

(Entre biographie et histoire collective. Charlotte Olivier-von Mayer (1864-1945) et la lutte contre la tuberculose)

Die Biographie von Charlotte Olivier-von Mayer stand am Ausgangspunkt
einer sozialgeschichtlichen Studie über den Kampf gegen die Tuberkulose und die Probleme einer präventiven Gesundheitspolitik im Kanton Waadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Charlotte Olivier überragte die andern Akteure dieser Kampagne durch ihre aussergewöhnliche Persönlichkeit, mit der sie den Kampf gegen die Tuberkulose vorantrieb. Dies hatte einige spezifische Gründe, die aufgezeigt werden müssen. Als Frau gelang es ihr leichter, andere Frauen zu mobilisieren und von ihnen jenen Einsatz zu verlangen, den sie selber vorlebte. Da der sozio-medikalische Bereich, die Tuberkuloseprävention, nur wenig prestigeträchtig war, kamen die Männer kaum in Versuchung, sie als Konkurrentin zu bekämpfen. Sie hatte zudem als Ausländerin den Vorteil, von lokalen Zwängen und Gewohnheiten weniger belastet zu sein. Als Gattin von Eugen Olivier half es ihr aber dennoch sehr, zu den angesehenen Familien der Waadt gezählt zu werden und von deren Prestige zu profitieren. Kultiviert, gewohnt, ihre Ideen selber zu verteidigen, aufgewachsen in einem anspruchsvollen, dem Zar Alexander II. nahestehenden Milieu, Hess sich Charlotte Olivier von gesellschaftlichen Autoritäten wenig beeindrucken. Sie missachtete auch konventionelle Schranken, wenn es darum ging, rascher ein gesetztes Ziel zu erreichen. In ihrem Tun wurde sie bestärkt durch ihre protestantische Ethik und durch ihr gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein, das insbesondere den sozial benachteiligten Schichten galt.
Hinzu kamen allerdings sehr persönliche Aspekte. Sie war innerlich so aufgewühlt, dass ihr Engagement sich beinahe mit Verzweiflung mischte. Seit ihrer Kindheit litt sie an psychosomatischen Krankheiten, gepaart mit einem geschärften, aus der Unterdrückung ihres Temperamentes genährten Bewusstsein. So erlebte sie die Arbeit als Befreiung. Doch selbst wenn die Motive ihrer öffentlichen Tätigkeit in ihrer psychischen Natur zu finden sind, dürfen die Wechselwirkungen zwischen ihrer Persönlichkeit – geprägt von Verpflichtung und Glaube – und den sozialen Herausforderungen im Kampf gegen die Tuberkulose nicht unterschätzt werden.
Das Projekt diese Biographie wurde begünstigt durch das schon gut erschlossene Archivmaterial. Es hatte sich aber während der Untersuchung auch gezeigt, dass eine rein sozialgeschichtliche Behandlung des Kampfes gegen die Tuberkulose auf gewisse Grenzen stiess. Die Biographie bot hier die Möglichkeit, die persönliche Initiative am Kontext einer kollektiven Erfahrung der Gesellschaft zu messen.

Erschienen in: traverse 1995/2, S. 24