Zwischen biologischer und symbolischer Familie. Weibliche Hausangestellte in der Westschweiz 1920-1945

(Entre famille biologique et famille symbolique. La domesticité féminine en Suisse romande entre 1920 et 1945)

Der vorliegende Beitrag stützt sich auf die Erinnerungen von Frauen, die zwischen 1920 und 1945 im Kanton Waadt als Hausangestellte gearbeitet haben.
Im Mittelpunkt stehen Aspekte des alltäglichen Lebens und die Beziehungen der Frauen zu ihren Familien. Dabei geht es sowohl um die «biologische» Familie als auch um diejenige, in der die jungen Frauen arbeiteten, die sogenannte «symbolische» Familie: eine Bezeichnung, die verdeutlichen soll, dass sich die Beziehung zwischen dieser und der angestellten Frau nicht auf eine zwischen Arbeitgeberin und Lohnempfängerin reduzieren lässt. Der «symbolischen» Familie kam eine weitaus grössere Bedeutung zu, schrieb sie doch ein Gemeinschaftsleben mit alltäglichen Ritualen und Normen vor, an das sich die Hausangestellten anpassen mussten.
Ihren Arbeitsplatz fanden die jungen Frauen sie waren zumeist ländlicher Herkunft mit Hilfe von Zeitungsinseraten oder durch nachbarschaftliche und familiäre Beziehungen. Gerade letztere boten den Eltern der 15-17jährigen eine gewisse Garantie, da ihre Töchter auf diese Weise in Familien kamen, die bereits andere «getestet» und für gut befunden hatten. War der Entschluss einmal gefasst, blieb kaum mehr Zeit für Gefühlsausbrüche und lange Abschiede. Die jungen Frauen wurden zum Bahnhof gebracht, in seltenen Fällen direkt zu den Arbeitgebern. Nach Antritt der Stelle blieben die Beziehungen zu den Eltern auf vereinzelte Besuche und einige Briefe beschränkt; die «biologische» Familie verlor an Bedeutung.
Dann, nach einigen Jahren der Erwerbsarbeit, heirateten die meisten. In die Ehe nahmen sie neben den Erfahrungen aus der «biologischen» auch diejenigen aus der «symbolischen» Familie mit. Oftmals versuchten sie ihren eigenen Haushalt nach den Grundsätzen ihrer ehemaligen Arbeitgeberinnen zu organisieren. Dies konnte Schwierigkeiten verursachen, weil in der Regel die dafür notwendigen finanziellen Mittel fehlten. Schwierig blieb aber auch die Beziehung zur «biologischen» Familie. Sie wurde nun in der Erinnerung ähnlich wie die breits vor Jahren verlassene ländliche Welt stark idealisiert und zu einem eigentlichen Hort der Rechtschaffenheit emporstilisiert. Beide Familien die « biologische » und die « symbolische » prägten so die Frauen in ihrem alltäglichen Verhalten.

(Übersetzung: Simone Chiquet)

Erschienen in: traverse 1996/3, S. 79