Integration durch Arbeit? Westdeutsche Behindertenpolitik unter dem Primat der Erwerbsarbeit 1949–1974


Die Zentralkategorie außerhäusliche Erwerbsarbeit bildete die Grundlage der Konzeption und Umsetzung westdeutscher Behindertenpolitik zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Mitte der 1970er-Jahre. Dies ergab sich erstens aus dem zeitgenössischen Behinderungsbegriff, der Behinderung als medizinisch begründete Minderung der Fähigkeit zur produktiven Arbeit definierte. Zweitens war Behindertenpolitik an die Bedingungen des historisch gewachsenen Systems der sozialen Sicherung gebunden. Dieses System wurde von der Sozialversicherung dominiert, die ihrerseits auf dem Erwerbsarbeitsprinzip gründete. Wirksam war drittens eine spezifische ideelle Aufladung der Erwerbsarbeit. Diese galt als Inbegriff des menschlichen Seins und als Bedingung sozialer Teilhabe. Insofern schien die Befähigung zur Erwerbsarbeit die den behinderten Menschen unterstellten sozialen Defizite auszugleichen und sie in die Gesellschaft zu integrieren. Die Erwerbszentrierung generierte in einem komplexen System von Differenzkriterien erhebliche Ungleichheit in der Behindertenpolitik.

Erschienen in: traverse 2006/3, S. 113