Mitgift und Hypothek. Vergleichende Studie zweier Lebensläufe in Bezug auf ihre Klassenspezifische und geschlechtliche Differenz

(La dot et l'hypothèque. Etude comparative de deux cours biographiques dans leurs enjeux de classe et de genre)

Was bringt uns eine vergleichende Biographie einer Frau und eines Man¬
nes? Kommen wir mit einem solchen Ansatz überhaupt zu Ergebnissen, die
jene einer traditionellen Sozialgeschichte übertreffen? Wir haben es versucht: es geht um den sozialen Aufstieg von zwei gleichaltrigen Persönlichkeiten (T. Combe 1856-1933 und Leopold Dubois 1859-1928), der anhand einiger ausgewählter Abschnitte ihres Lebens, in denen es zu entscheidenden Weichenstellungen kam, dargestellt wird. Inwiefern, so unsere Fragestellung, determinierten strukturelle Gegebenheiten diese Entscheidungen? Es ging uns also darum, die eingesetzten Mittel, die objektiven Möglichkeiten, die beruflichen Wege und die gesellschaftlichen Bezüge im Rahmen der Klassen- und Geschlechterbeziehungen zu untersuchen. Einer Frage wurde besondere Beachtung geschenkt: Welche in bezug auf Mann und Frau unterschiedlichen Faktoren spielen bei der konkreten Verwirklichung von solchen Lebensläufen eine entscheidende Rolle? Unsere Protagonisten, Kinder von Heimarbeiterfamilien der Uhrenindustrie des Neuenburger Juras, begannen ihr Erwerbsleben als Lehrerin und Lehrer an den regionalen Schulen. Beide verlassen nach kurzer Zeit den Lehrberuf – die Frau, um eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen jener Zeit zu werden, der Mann, um zu einem seine Generation prägenden Bankier des aufkommenden Finanzplatzes Schweiz aufzusteigen. Zwischen dieser «femme de plume», von einem Pariser Kritiker als «princesse de lettre» gelobt, und diesem «homme de banque», vom Droit du Peuple als «kleiner Finanzkönig» apostrophiert, erwächst dem Historiker ein archetypisches Profil, das eine beiden Persönlichkeiten gemeinsame Perspektive enthält: jene der sozialen Mobilität von «Aufsteigern» der unteren Volksschichten, deren Karriere sich im Bereich jener sozialen Kreise ansiedelt, die sich in dieser Zeit als «gehobener Mittelstand» um eine neue gesellschaftliche Identität bemühen.
Der vorliegende Artikel behandelt im ersten Teil die homologen Aspekte der gesellschaftlichen Karrieren. T. Combe und L. Dubois gehören derselben Altersklasse an, ihre Eltern arbeiten in derselben Branche in der gleichen Region. In einem weitgehend ähnlichen sozialen Milieu geniessen sie dieselbe Ausbildung und unternehmen einen gleichen ersten Schritt ihres beruflichen Aufstieges, den Eintritt ins öffentliche Schulwesen. Es zeigt sich dann aber, dass diese Ausgangslage den Protagonisten keineswegs dieselben Aufstiegschancen gewährt, sondern geradezu ungleiche Optionen der Allokation von Karrieremöglichkeiten aufdrängt. Die sich rasch ausbildenden, differenzierten und asymmetrischen Positionen bewirken einen zunehmenden Abstand zwischen den beiden Lebensläufen. Differenzierte, geschlechtsspezifisch optimale Karrieremuster vertiefen die nun unterschiedlichen Biographien. Die Studie analysiert eingehend diese Modalitäten der ersten Transformationsprozesse – von der Lehrerin zur Schriftstellerin, vom Volksschullehrer zum Direktor der Handelsschule – und zeigt, wie der Berufswechsel zu verschiedenen, vom Geschlecht determinierten persönlichen Realitäten – die Autoren nennen dies «les conditions de felicité» – führt. In diesen bauen sich neue individuelle Konfigurationen auf, die sich ihrerseits den Rahmenbedingungen des sozialen Umfeldes anpassen.
Schliesslich geht der Artikel zu einer vergleichenden Analyse der Nützlichkeit von Heirat (Dubois) oder Ehelosigkeit (Combe) über. Dabei tritt vor allem die entscheidende Rolle der Heiratsstrategie in der männlichen Biographie deutlich zutage. Dieser gesamte Problemkreis führt uns auch dazu, die allgemein übliche Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatsphäre in Frage zu stellen. Vergleicht man nämlich die Auswirkungen dieser «intimen» Entscheidungen, so stellt man fest, dass es sich um äusserst wichtige Faktoren der sich im öffentlichen Raum abspielenden Karrieren handelt. Individuelle Biographien, so zeigt es sich, können nicht solcherart in einer Serie von «Lebensabschnitten» analysiert werden, als handle es sich um mehr oder weniger abgegrenzte, sich selbst erklärende historische Kapitel.

Erschienen in: traverse 1995/2, S. 78