Die Eroberung der Strasse durch das Automobil. 1895-1920

(La route saisie par l'automobile, 1895 1920)

Die Einführung des Automobils auf den Strassen Europas verläuft in den Jahren 1895-1914 nicht ohne Konflikte. Um die Benutzung der Fahrbahn streiten sich berufliche und soziale Gruppen. Die Konflikte betreffen zunächst das technische System der Strasse. Die Automobilisten versuchen die Behörden zu bewegen, die Strassen ihren Bedürfnissen anzupassen, Beläge und Profile autofreundlich zu gestalten sowie Wegweiser und Verkehrszeichen aufzustellen, welche die Sicherheit erhöhen und lange Reisen vereinfachen sollen. Auf diesem Gebiete sind sich die Automobilisten, bei denen es sich mehrheitlich um Adelige und Grossbürger handelt, ihrer Kompetenzen gewiss sie zögern nicht, die Massnahmen der Behörden zu kritisieren und das Heft selber in die Hand zu nehmen. Es sind vor allem die Automobil- und Touring-Clubs, welche mit Hilfe grosser Firmen wie Michelin und Dunlop autogerechte Strassenzeichen entwerfen, finanzieren und aufstellen. Auch die ersten Strassenkarten, die auf dem Material der Generalstäbe basieren, werden von nichtöffentlichen Organisationen erarbeitet: in Frankreich von Michelin, in Italien vom Touring-Club. Die Strassenkarten erhöhen die symbolische Integration des nationalen Raums. Die Autoverbände gestalten das Strassennetz um, indem sie den Bau von Routen initiieren, die ausschliesslich touristischen Zwecken dienen, (in Frankreich beispielsweise die Corniche de l’Estérel an der Côte d’Azur) sowie die Grande Route des Alpes. Die praktische Nutzung der Strasse wird geprägt durch die Unfälle, die man ebenfalls als Konflikte um die Aneignung von öffentlichem Raum interpretieren kann. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Typen von Strassenbenützern unterscheiden: einerseits die Bauern, welche kurze Strecken favorisieren, die Geschwindigkeit ignorieren und Mühe haben, sich die Bedürfnisse und Praktiken der Neuankömmlinge vorzustellen; andererseits die weit reisenden Automobilisten, welche die Kontrolle des Raums mit dem Recht auf Geschwindigkeit gleichsetzen. Die Zusammenstösse spielen sich sowohl auf einer symbolischen als auch auf einer rechtlichen Ebene ab. Die Reiseberichte, die in den Spezialzeitschriften erscheinen, aber auch die Artikel der Massenpresse erörtern den erstrebenswerten Gebrauch der Strassen und fordern die Unterdrückung illegitimer Verhaltensweisen. Die lokalen Gerichte definieren neue Delikte. Dass in Frankreich bis 1922 keine Strassenverkehrsordnung, kein Code de la route, geschaffen werden kann, zeigt, wie lange sich Konzeptionen der Strassenbenutzung halten, die sich gegenseitig ausschliessen. Auch die Diskurse, welche die autofreundlichen Interessengruppen gestalten, verändern sich zusehends. In den Jahren zwischen 1895 und 1905 kommt es zu einer direkten Konfrontation jener sozialen Gruppen, welche den Rahmen für den Gebrauch des Automobils abstecken müssten. Aus der Bourgeoisie und der Aristokratie hervorgegangen, lassen die Automobilisten, die durch die Industriellen die Clubs) unterstützt werden, ihren uperioritätsgefühlen freien Lauf, sei es gegenüber den Ingenieuren, welche mit dem Unterhalt der Strassen betraut sind, sei es gegenüber den lokalen Behörden, welche die Interessen der Anlieger, der Dorfbewohner und der Bauern vertreten. In ihren Zeitschriften mobilisieren die Automobilisten Ressourcen kultureller Superiorität, um jene zu disqualifizieren, die ihnen in die Quere kommen: Fussgänger, Fuhrleute und Viehherden. Nach 1905/06 ändern zumindest in Frankreich die grossen Vereinigungen ihre Politik. Sie suchen nach Alliierten unter den anderen Strassenbenützern und ersetzen die unnachgiebigen Konfrontations- durch subtilere Strategien. So fordern sie ihre Mitglieder auf, sich um ein automobilistisches savoir-vivre zu bemühen. Nach und nach gelingt es ihnen, Strassennutzungsarten zu etablieren, die sowohl ihren Interessen als auch ihren Werten entsprechen. Das allgemeine Tempolimit wird für unbestimmte Zeit aufgehoben.

(Übersetzung: Christoph Maria Merki)

Erschienen in: traverse 1999/2, S. 109