Die Geschichte des Kommunismus auf dem Prüfstand nach der Öffnung der Archive

(L'histoire du communisme à l'épreuve des archives russes)

Die Öffnung der russischen Archive hat ein erneutes Interesse an der Geschichte des Kommunismus geweckt. Dem sollte die Erneuerung der Geschichtsschreibung des Kommunismus folgen. Als Teil der Zeitgeschichte partizipiert die Geschichte des Kommunismus auch an deren Stärken und Schwächen, indem sie sich für ideologische und kulturelle Wetterlagen anfällig zeigt. Obwohl sie meist von einer Zeit spricht, deren Protagonistinnen und direkte Zeugen verschwunden sind, bleiben die von ihr untersuchten Realitäten in manchen Ländern Europas mit aktuellen Auseinandersetzungen verbunden. Dieser starke Aktualitätsbezug fördert zwar das Interesse, induziert aber oft auch eine instrumentalisierende Nachfrage. Wie indes kann eine gewisse Rückkehr zu einer teleologischen Geschichtsschreibung verhindert werden, nun, da die politische Ideologie der Arbeiterbewegung in Frage gestellt wird? Kommt da nicht eine lineare, lange durch einen optimistischen Evolutionismus geprägte Auffassung von Geschichte zurück – in der Form des umgekehrten Modells einer durch die Suche nach den Ursachen des letztlichen Scheiterns geleiteten Geschichtsschreibung? Für manche scheinen die in Moskau ausgegrabenen Archive des Kommunismus einzig die Funktion zu haben, seine Beerdigung zu legitimieren! Die Öffnung des Kominternarchivs und der andern Archive in Russland wurde mehr in ihrer politischen Bedeutung als in ihrer wissenschaftlichen wahrgenommen und hat aufgrund des starken Medieninteresses grosses Echo in der Öffentlichkeit gefunden. Dieses Medieninteresse ist Zeichen einer ausgeprägten Sensibilität für alles, was mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems verbunden ist. Die Gewalt und das Ausmass seiner Implosion haben einen Erklärungsbedarf geschaffen und die Archive sollen nun als Legitimation für die diversesten Erklärungen dienen. Diese ideologische Dimension des Gebrauchs der Archive wurde noch durch die politische Lage in Russland verstärkt, die die Frage der Archive zu einer Angelegenheit des russischen Nationalismus machte.
Das Kominternarchiv ermöglicht somit eine Neuentwicklung der Geschichte des Kommunismus, es fordert indessen auch die politische Zeitgeschichte heraus. Dank dieses Archivs sollten die Historikerinnen und Historiker der Arbeiterbewegung ihre Forschung wieder vermehrt auf die politische Aktivität als solche zentrieren können. (Dies bedeutete insbesondere für die französische Historiographie einen Perspektivenwechsel.)
Der Reichtum des Kominternarchivs stellt sowohl auf der methodologischen wie auf der theoretischen Ebene grosse Anforderungen an die wissenschaftliche Exaktheit und Redlichkeit. Es sollte möglich sein, Problematiken der Sozialgeschichte, der Diskursanalyse, des Studiums von Vorstellungswelten und der Kolllektivbiographie zu integrieren. Diese Archive bieten mehr als zusätzliche Quellen; sie können das Material für weitergehende Recherchen liefern, insbesondere über die politische Kultur der Komintern. Weit entfernt davon, überholt zu sein, gewinnt die Reflexion über den Kommunismus an Aktualität und partizipiert am notwendigen Projekt der Erneuerung der politischen Geschichte.

Erschienen in: traverse 1995/3, S. 19