Réduit impérial? Vertikale Geopoetik bei Leonhard Ragaz und Gonzague de Reynold


Dieser Beitrag stellt literarische Präfigurationen des alpinen Untergrunds in direkten Bezug zur Schweizer Alpenfestung im Zweiten Weltkrieg. Es geht um die Frage, wo der Reduit-Mythos genau formuliert und wirksam wird. Exemplarisch werden dafür die Alpeninnenräume zweier ikonischer Texte der Zwischenkriegszeit verglichen: Leonhard Ragaz’ programmatischer Essay Die neue Schweiz (1917/18) und Gonzague de Reynolds Monumentaldrama La Cité sur la Montagne (1919/22). Beide inszenieren den Gotthard als Zentrum Europas, beide erheben entsprechend Geltungsansprüche auf den Kontinent. Doch der progressive christliche Sozialist Ragaz entwirft bildhaft einen dynamischen, fliessenden Raum, in dem die Schweiz aufgehen soll: Vom «Land der Höhen» müsse jene Erneuerung Europas ausgehen, die den Nationalstaat schliesslich überwindet. Demgegenüber markieren beim reaktionär-konservativen Katholiken de Reynold die metaphorischen Kerbungen im Gotthardmassiv einen Machtanspruch auf das ganze christliche Abendland. Es zeigt sich, dass in den geologischen Tiefenschichten ein imperialer, kein nationaler Raum angelegt ist. Als sich die Schweizer Armee tatsächlich des alpinen Untergrunds bemächtigt, geht de Reynold die Neubearbeitung von La Cité sur la Montagne an. In dieser Fassung wird das Stück ab 1941 zur militärpolitischen Propaganda, zumal Geopoetik und Geopolitik, Fiktion und Militärstrategie jetzt nicht mehr zu trennen sind.

Erschienen in: traverse 2020/2, S. 98