Ein schweizer Priester gegen «Vichy». Abbé Albert Gross und die jüdischen Internierten (1942-1943)

(Un prêtre suisse contre le pouvoir de Vichy. L'Abbé Albert Gross auprès des juifs internés (1942-1943))

Welche Handlungsmöglichkeiten hatte ein Priester, der von der Katholischen Mission in die französischen Internierungslager von Gurs geschickt worden war in die Lager, die man später die «camps de honte» die Lager der Schande, nennen sollte? Welche Haltung konnte ein katholischer Schweizer Priester einnehmen, der im Machtbereich der Vichy-Regierung arbeitete und sich dabei auch an die Weisungen seiner religiösen Vorgesetzten in der neutralen Schweiz halten sollte? Im Lager von Gurs pflegte Abbé Albert Gross zwischen Frühjahr 1942 und Frühjahr 1943 eine aktive und zugleich subversive Nächstenliebe. Zu der Zeit fanden die grossen Deportationen von Juden und Jüdinnen aus der freien Zone nach Drancy und weiter nach Auschwitz statt. Gross suchte immer nach Möglichkeiten, Menschen vor dem Tod zu retten, widersetzte sich damit den Anweisungen des Präfekten und erreichte, dass eine grosse Zahl von Internierten nicht deportiert wurde. Seine zahlreichen Kontakte und die aktive Hilfe bei der Reise bis an die Grenze ermöglichte vielen von ihnen die Flucht in die Schweiz. Als einer der ersten nutzte Gross die auf Initiative von protestantischen Pfarrern zustande gekommene Flüchtlingskategorie der «non-refoulables» indem er jüdische Flüchtlinge als Christen deklarierte und so vor der Ausschaffung aus der Schweiz bewahrte. In der Folge verfasste er einen erschreckenden Bericht über die Deportationen, der jedoch in der Schweiz nicht publiziert werden durfte. Der Aufsatz stellt die These auf, das Verhalten des Abtes sei von einer stupenden «Modernität» gewesen; Gross habe sich sowohl über politisch-rechtliche Vorschriften als auch über religiöse und ethnische Vorurteile hinweggesetzt.

(Übersetzung: Thomas Christian Müller)

Erschienen in: traverse 2000/3, S. 90