Ein neues Bild der Sowjetunion in der Schweiz

(Une nouvelle image de la Russie soviétique en Suisse (1943-1944))

1943/44 sah sich die Schweiz veranlasst, ihre Beziehungen zur Sowjetunion neu zu überdenken, als sich – insbesondere nach der Schlacht von Stalingrad – das militärische Kräfteverhältnis zugunsten der Alliierten zu verschieben begann. Trotz seiner Zurückhaltung bei der diplomatischen Anerkennung der UdSSR musste der Bundesrat den entscheidenden Veränderungen im Kriegsverlauf
Rechnung tragen, umso mehr als ein massgeblicher Teil der schweizerischen Öffentlichkeit die Regelung der Beziehungen zu Moskau wünschte.
Zu den Kreisen, die eine Annäherung an die UdSSR propagierten, zählten
neben der Linken (Sozialisten wie Kommunisten) auch Vertreter der Exportindustrie, deren Interesse an ökonomischen Beziehungen zur Sowjetunion schon Tradition hatte. Diesen Gruppen schlössen sich nun auch breite Segmente des um seine Zukunft in der Nachkriegszeit besorgten Bürgertums an.
Die von wirtschaftlichen Überlegungen sowie von Fragen der internationalen Politik geleiteten Interessengruppen verbreiteten ein revidiertes und beschönigtes Bild des sowjetischen Staates. Fern davon, diesen wie zuvor als «Herd der Weltrevolution» zu brandmarken oder als autoritären Staat anzuprangern (immerhin hatte sich die Sowjetunion mit «Säuberungen» und Gulag gravierende Verletzungen der elementaren Menschenrechte zuschulden kommen lassen), tendierte man dazu, zwischen der inneren Organisation des Staates einerseits, seiner imperialistischen Aussenpolitik andererseits zu differenzieren. Während man den innern Staatsaufbau akzeptierte, wenn nicht gar billigte, erwartete man, dass die westlichen Alliierten die expanisionistischen Grossmachtansprüche der Sowjetunion in Schach halten würden.
Wiewohl diese Sichtweise 1943/44 in der Schweiz nicht vorherrschte, so tauchten doch verschiedene Facetten des neuen Bildes zumindest bei den zahlreichen Befürwortern einer Normalisierung der Beziehungen zu Moskau auf, und sie sind sowohl in breiten Bevölkerungskreisen als auch im Umfeld der Macht zu finden.
Trotz der neuen Sicht auf die Sowejtunion blieben auch in den Jahren 1943/44 andere Aspekte weiterhin prägend für die Beziehung der Schweiz zu der UdSSR: an erster Stelle ein mehr oder weniger latenter Rassismus gegenüber den Osteuropäern. In der Innenpolitik hielt man zudem beharrlich am Antikommunismus und Antisozialismus fest, nicht zuletzt um die politischen und sozialen Forderungen der Linken zu diskreditieren.

Erschienen in: traverse 1995/3, S. 100