Die europäischen Industriegesellschaften erlebten nach dem Zweiten Weltkrieg eine nahezu dreissigjährige Hochkonjunktur, die vom Durchbruch der industriellen Massenproduktion und von einem enormen Anstieg des Energieverbrauchs geprägt war. Kernenergie galt in der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren als Zukunftstechnologie und als energieintensive Branche gehörte die Chemieindustrie zu ihren klaren Befürwortern. Der zunehmende internationale Wettbewerbsdruck und die wachsenden Energiepreise am Ende des Booms bedeuteten für die westdeutschen Chemieunternehmen eine gewaltige Herausforderung. Um steigenden Energiekosten entgegenzuwirken und ihre Abhängigkeit vom Rohöl zu verringern, stellte die BASF 1969 den Antrag, ein eigenes Kernkraftwerk zu errichten. Während die rheinland-pfälzische Landesregierung die Idee unterstützte, meldeten die zuständigen Ministerien in Bonn erhebliche Bedenken gegenüber einem Atomkraftwerk innerhalb eines Industriekomplexes und in unmittelbarer Grossstadtnähe an. Obwohl alle Bundestagsfraktionen die prognostizierte Energielücke mithilfe der Kernenergie schliessen wollten, setzte nun ein mehrjähriger Verhandlungsprozess ein. Die Rohstoff- und Energiekosten verteuerten sich mit der ersten Ölpreiskrise 1973 nochmals erheblich, doch wurde das Projekt letztlich nicht realisiert, da die gestiegenen Investitionskosten die zu erwartenden Einsparungen deutlich überstiegen. In einem ersten Abschnitt wird hierzu der Verhandlungsverlauf von der Antragstellung bis zur Ölpreiskrise untersucht, bevor in einem weiteren Teil die teils gegensätzlichen Positionen der verschiedenen Ministerien und Sicherheitsgremien vor dem Hintergrund erhöhter Energiepreise analysiert werden.
Ungestillter Energiehunger am Ende des Booms. Der geplante Bau eines Atomkraftwerks bei der BASF in Ludwigshafen, 1969–1976
Erschienen in: traverse 2013/3, S. 112