Verwaltung in der Zerstreuung. Administrative Techniken und Praktiken im frühneuzeitlichen Graubünden


Frühneuzeitliche Verwaltungsgeschichten orientieren sich meist an den großen Institutionen wie dem Staat, der Stadt, der Kirche oder dem Hof. Sie sind Geschichten rationaler Ordnungsmuster, insofern die meisten Verwaltungsgeschichten einem historischen Narrativ anhängen, in welchem die Verwaltung die Konstitution des modernen Staats vorbereitet. Sie thematisieren bürokratische Techniken und Praktiken als Medien der Integration, die Menschen und Dinge registrieren und kontrollieren und sie zu einem einheitlichen Gesellschaftskörper fügen. Der Artikel hingegen fokussiert eine andere Rationalität der Verwaltung frühneuzeitlicher Gesellschaften, die nicht einer Geschichte der Integration durch administrative Verfahren gehorcht. Anhand des Fallbeispiels der Drei Bünde, dem heutigen Graubünden, wird eine Rationalität gesellschaftlicher Verwaltung skizziert, deren Effizienz gerade darin besteht, dass sich kein zusammenhängender zentraler Verwaltungsstaat herausbilden kann. Konturiert wird einerseits die Funktion eines unstrukturierten zentralen Archivwesens für die Organisation segmentärer Gesellschaften, wie sie sich in Bünden um 1700 ausmachen lassen. Kulturelle Praktiken wie das gemeinsame Schwören auf den Bund, die dafür sorgen, dass sich eine Gesellschaft in der Differenz rekonstituieren kann, gelingen nur dann, wenn Verwaltungen nicht reibungslos funktionieren. Thematisiert werden andererseits die Brüche und Konflikte, die sich in Abwesenheit einer administrativen Zentralgewalt zwischen den sozialen Gruppierungen ergeben und auf der Ebene der Dokumente und Archive verhandelt werden. Verwaltungen funktionieren in dezentralen Gesellschaftsformationen effizient, wenn sie das Gemeinsame verfügbar und umstritten halten.

Erschienen in: traverse 2011/2, S. 29