Vom schwierigen Umgang der schweizerischen Geschichtsschreibung mit dem Landesstreik vom November 1918


In der politischen Publizistik und in der Geschichtswissenschaft lassen sich im Umgang mit dem Generalstreik vom November 1918 zwei grundverschiedene Konstellationen unterscheiden. Bis Mitte der 1950er Jahren dominierte eine konservativ-bürgerliche bis reaktionäre Deutung, die nicht auf Quellenforschung, sondern auf Weiterverbreitung und Ausschmückung des entsprechenden Diskurses beruhte und von einem gescheiterten bolschewistischen Umsturz ausging. 1955 kündigte Willi Gautschi mit seiner Dissertation, der ersten quellengestützten Studie, ein neues Narrativ an. Dieses setzte sich Ende der 1960er Jahre durch, wobei drei Faktoren zusammenwirkten: Erstens stand der 50. Jahrestag bevor. Zweitens näherten sich die Sperrfristen der Archive ihrem Ende und wurden lockerer gehandhabt. Und drittens stieg im Gefolge der Jugend- und Studentenbewegung die Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung massiv an. In drei Werken zum Jahrestag sowie in zahlreichen thematischen (z.B. Bauern, Armee, Kirche, Bürgerwehren) und regionalen (z.B. Zürich, Basel, Luzern, Jura, Genf, Waadt, Schaffhausen, Grenchen-Solothurn) Studien wurde die These vom gescheiterten Umsturz seither ins Reich der Legenden verwiesen. Zur Erklärung der Arbeitsniederlegung dienten fast durchwegs die grosse soziale Not der Arbeiterschaft und die fetten Kriegsgewinne einer kleinen Schicht von Profiteuren. Noch zu wenig beleuchtet wurden die Folgen für die soziale Lage der Arbeiterschaft und die Ausgestaltung des Sozialstaates.

Erschienen in: traverse 2018/2, S. 43