Vom Tasten, Hören, Riechen und Sehen unter Grund – Sensory Politics im Angesicht der nuklearen Apokalypse


Der vorliegende Artikel leistet einen Beitrag zur Sinnes- und Emotionsgeschichte der atomaren Bedrohung im Kalten Krieg. Für die Mehrheit der Menschen lag «die Bombe» während des Systemkonfliktes ausserhalb der Möglichkeit einer unmittelbaren Wahrnehmung. Das Hauptaugenmerk der Literatur galt bislang denn auch den Bildern und Filmen von Atompilzen, Feuerbällen und Ruinen von Städten, die durch den Staat wiederholt zur emotionalen Kontrolle der Bevölkerung instrumentalisiert wurden. Allzu schnell wird bei diesem Fokus auf die visuelle Aneignung der Bombe vergessen, dass der Ost-West-Konflikt auch reale Bauten hervorgebracht hat, die das gesamte körperliche Sensorium der Menschen qua materiellem Schutz gegen die Atombombe miteinbezog: die fallout shelters oder Atomschutzräume. Anhand wissenschaftlicher Studien zum Leben in Atomschutzräumen in der Schweiz zeigt der Beitrag auf, dass im Kalten Krieg durchaus alle Sinne einem staatlichen Zugriff unterworfen waren. Übergeordnete Zielsetzung der in den 1960er- und 1970er-Jahren durchgeführten Laborversuche war es, die Denk- und Gefühlswelten der SchweizerInnen durch die Modulierung ihrer haptischen, auditiven, olfaktorischen und visuellen Wahrnehmungen im Bunker umfassend zu steuern. Der schweizerische Staat verschrieb sich einer sensory politics, deren Fluchtpunkt dozile Bürger und eine bomb-proof society waren.

Erschienen in: traverse 2015/2, S. 131