Eine Erneuerung der Geschichte der Arbeiterbewegung ist zweifellos wünschenswert und durch eine verstärkte historiographische Auseinandersetzung mit dem Arbeiteralltag beziehungsweise der Arbeiterkultur möglich. Dem Arbeitermilieu fällt es bekanntlich aufgrund seiner ideologischen und gesellschaftlichen Abhängigkeit von der Elitekultur schwer, seine eigene Sichtweise, gerade bei Fragen des Alltags, zu artikulieren und somit Anspruch auf eine autonome Kultur zu erheben.
Der Autor stellt anhand des Absinthverbotes die Schwierigkeiten der Arbeiterschaft bei der Bestimmung des eigenen kulturellen Selbstverständnisses dar. Die Aufnahme eines Absinthverbotes in die Bundesverfassung gehört zu den wenigen Volksinitiativen, die in der Geschichte der halbdirekten Demokratie der Schweiz angenommen wurden. Auslöser für die Lancierung der Initiative war ein Mordfall, bei welchem Alkohol im Spiel war. Dabei engagierten sich hauptsächlich Frauen, obwohl ohne Stimmrecht, öffentlich für die Vorlage. In der Sozialdemokratie hingegen löste die Vorlage vor allem in der Westschweiz Kontroversen aus, so dass die Unterstützung eher halbherzig ausfiel. Auch die linksrevolutionären Gewerkschafter waren gespalten. Man war sich in Arbeiterkreisen bewusst, dass Absinthkonsum dem sozialen Fortschritt nicht förderlich war. Die Unmöglichkeit aber, in dieser Frage einen breiteren Konsens zu finden und in der politischen Auseinandersetzung einen unabhängigen Standpunkt zu vertreten, manifestiert die grosse Mühe der schweizerischen Arbeitnehmerorganisationen, eigene gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Netze zu schaffen. Der rasche Niedergang des Genfer Volkshauses kurz nach seiner Gründung hatte dabei geradezu symbolischen Charakter.
(Übersetzung: Jonas Römer)