Die «Rabenmutter» oder der Wahnsinn von Jeanne Lombardi, Mörderin ihrer Kindern während einer Nacht im Mai 1885

(La «mère dénaturée» ou la folie de Jeanne Lombardi, égorgeuse nocturne de ses quatre enfants en mai 1885)

Häusliche Gewalt wird durch die Beteiligten häufig verborgen, weil sie nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von Familie entspricht. Das familiäre Wertsystem beruht auf der Rolle des Vaters und der Mutter, die für den häuslichen Frieden zu sorgen haben, und kulminiert in der ehelichen Liebe wie auch jener der Eltern zu den Kindern. Das Gerichtsarchiv erlaubt, den Exzess des häuslichen Konflikts, der in Gewalt und Totschlag münden kann, trotzdem zur Sprache zu bringen. In Genf im Mai 1885 ermordet Jeanne Lombardi, gebrochen durch die eheliche Hölle, ihre vier Kinder im Schlaf. Danach versucht sie, sich zu vergiften.
Die unterschiedlichen Aspekte des Falls machten die Genfer Bevölkerung tief betroffen, da sich schlafende Unschuldige und die Grausamkeit der Vorortsmedea gegenüber standen. Die Presse als Zerrspiegel der kollektiven Gefühle berichtete täglich über den Fall Lombardi. Die Zeitungen erwähnen die «Verrücktheit» um das Verbrechen des moralischen Monsters, das als Rabenmutter ihre Kinder und ihr Heim vernichtet hatte, zu verstehen. Die These der geistigen Umnachtung, die durch die Psychiater während der Beweisaufnahme und von Anwalt Adrien Lachenal in sein Plädoyer vor dem in Genf aufgenommen wurde, setzte sich schliesslich gegen das Argument der kriminellen Verantwortlichkeit durch. Jeanne Lombardi wurde als krank, aber sozial gefährlich beurteilt und in die psychiatrische Anstalt von Vernets eingewiesen, aus der sie bereits im Herbst 1893, nachdem der Psychiater Auguste Forel ihre «Heilung» diagnostiziert hatte, entlassen wurde. Der Prozess warf die brennende Frage nach der Berücksichtigung von Geisteskrankheiten vor Gericht auf. Ein Jahr nach dem Prozess, überarbeitete die Genfer Legislative das Gesetz über die legale Behandlung von kriminellen Geisteskranken. So wie der Fall in die psychiatrische Literatur einging, verkörperte Jeanne Lombardi das häusliche Leiden, das sie in ihren, auf Bitte ihrer Psychiater verfassten autobiografischen Memoiren als plausible Erklärung darlegt. Neben seiner juristischen und medizinisch-legalistischen Seite, zeigt der Fall Lombardi, wie das eheliche und mütterliche Leiden mit Totschlage und Selbstmord einhergehen können. Die häusliche Gewalt veranschaulicht in ihrer morbiden Radikalität die Zerstörung des Projekts Familie.

Erschienen in: traverse 2005/2, S. 119