Der französische Adel: Von der Ewigkeit in die Vergänglichkeit (19. Jahrhundert)

(La noblesse, entre éternité et temporalité éphémère (France, XIXe siècle))

Der Adel hat eine besondere, eine stark symbolische Beziehung zur Zeit. Einerseits verlangt die adlige Soziabilität nach einer eigenen Rhythmizität, die von der mondänen Karnevalszeit über die Reisen und Badekuren bis hin zum Leben auf dem Schloss und der Teilnahme an der Treibjagd von Saint-Hubert viele Aktivitäten umfasst. Andererseits will sich diese Klasse des Müssiggangs und der Zeitverschwendung unsterblich wissen: Über alle Jahrhunderte hin beharrt der Adel daruaf, die Zeit zu dominieren, die Zeit zu negieren.
Die Besessenheit nach Ewigkeit ist Markenzeichen dieser Kultur der strengen Ordnung (culture de l’ordre); in ihr erfindet sich der Adel in der nachrevolutionären Gesellschaft von neuem. Die Vorstellung einer adligen, sowohl familial wie sozial ewig währenden Zeit wird auch in einer wahnhaften heraldischen Tradition manifest. Ohne institutionalisierte Privilegien schmückt sich der Adel vorwiegend mit symbolischem, gleichsam göttlichem Glanz: Gottgleich reichen die adligen Stammbäume in die Ewigkeit, wodurch sie auch der egalitären Anonymität des französischen Citoyen entkommen, der vom vollständigen Vergessen bedroht ist. Das Bewusstsein einer «longue duree» konstruiert sich ebenfalls in der Wiederholung der saisonalen Rhythmen. Weil man sich jedes Jahr zur selben Jahreszeit mit denselben Eltern, denselben Freunden und denselben Dienstleuten im selben Schloss einfindet, bleibt die Zeit stehen.
Eignet sich die adlige Zeit den schnelleren Rhythmus des 19. Jahrhunderts also niemals an? Eine erneute Lektüre von Terminkalendern und von jeglicher Idealisierung fern stehender Alltagskorrespondenz erlaubt genauer zu bestimmen, in welchen Momenten und in welchen Perioden die Schnelligkeit als Lebensart adaptiert wurde. Weil die kosmopolitische Aristokratie über die entsprechenden Techniken nicht verfügte, musste Prinz Pierre d’Arenberg, Oberhaupt des französischen Zweigs der von Arenberg, seinen Tagesrhythmus beschleunigen, was er mit zunehmender Müdigkeit bezahlte. Auch die Übernahme von neuen Werten wie Erfolg oder gesellschaftliche Nützlichkeit bewirkte eine Beschleunigung: Leonce Marquis de Vogüe liebte sein bewegtes Leben als neuer Besitzer von Eisenhüttenwerken.
Die mit den adligen Lebenswelten konkunierenden Lebensmodelle der Welterfahrenheit, der Wissenschaft, des Unternehmertums oder der Politik bringen die traditionellen Eliten ausserhalb ihrer repetitiven, unberührbaren und unsterblichen Zeitrhythmen ins Wanken. Mit dem Risiko, einer zeitlichen Vergänglichkeit anheimzufallen, erfuhren die adligen Verhaltensweisen zwischen 1800 und 1860 eine Modernisierung: Erst spät also führte der wirtschaftliche Zwang den Adel zur Übernahme einer schnelleren Lebensweise. Noch während langer Zeit erfolgte die adlige Vermögensverwaltung vor allem auf Kosten einer Übernutzung von Arbeitskraft und Boden, durch welche die Zeitverluste wettgemacht werden konnten. In den Provinzen schliesslich blieb dem Adel, gebunden durch die wiederkehrenden Repräsentationspflichten, die Umstellung noch lange fremd. Insgesamt sind die kulturellen Veränderungen im Adel des 19. Jahrhunderts wohl weniger durch eine Verbürgerlichung als vielmehr durch eine Interiorisierung von schnellen, sich aufdrängenden Arbeitsrhythmen gekennzeichnet.

(Übersetzung: Thomas Hildbrand)

Erschienen in: traverse 1997/3, S. 89