Der metaphorische Imperativ. Überlegungen zur anatomischen Illustration (15.-18. Jahrhundert)

(L'impératif métaphorique. Quelques réflexions autour de l'illustration anatomique (XVe-XVIIIe siècles))

Bei der Abbildung von menschlichen Körpern und Körperteilen im Bereich der anatomischen Ikonographie kommt es zwischen 1500 und 1800 zu einer Überlagerung metaphorischer Diskurse. Charakteristisch für diese vielfältigen Diskurse ist, dass sie aus einem Schatz von Symbolen schöpfen und bei der Erzeugung von Bildern auf die (damaligen) Ausdrucksmittel mythologischer, religiöser und moralischer Traditionen zurückgreifen. Sie sind im allgemeinen Ausdruck einer materiellen Vorstellung des Körpers. Zahlreiche Anspielungen zeigen, dass sie ihn wie übrigens auch die Seele nach wie vor als Ort ansehen, wo Identität und Subjektivität entsteht. Aufgrund der anatomischen Ikonographie ist es nun möglich, der dualistischen These entgegenzutreten, wonach die Trennung von Geist und Körper (ein geringgeschätztes Objekt, der Körper, dem ein überhöhtes Subjekt, die Seele, übergeordnet wird) eine Eigenheit unserer westlichen Zivilisation ist. Besagte
These ist ein Erbe der Philosophie Descartes, die uns von den Aufklärern vermittelt wurde. Die Ikonographie des «anatomischen Ancien régime» bringt ihre Schwäche klar hervor und zeigt, dass Erklärungsversuche, die hier ansetzen, leicht im Anachronismus enden.

(Übersetzung: Jonas Römer)

Erschienen in: traverse 1999/3, S. 23