Mutualismus und Krankenversicherung in der Schweiz (1893-1912). Eine ambivalente Anpassung

(Mutualisme et assurance maladie en Suisse (1893-1912). Une adaptation ambiguë)

Vor genau 100 Jahren wurde das erste Schweizer Krankenversicherungsgesetz, die Lex Forrer, in einer Volksabstimmung verworfen nicht zuletzt aufgrund der ablehnenden Haltung der privaten Sozialversicherungen. Die in diesem Beitrag behandelte Fédération des Sociétés de secours mutuels de la Suisse romande (FSSMSR) spielte in der Opposition gegen das Versicherungsobligatorium ein wichtige Rolle. Zudem wirkte sie auch bei der Gestaltung des künftigen Sozialversicherungssystems wesentlich mit: ihr Versicherungsmodell wurde zur Grundlage des 1911 verabschiedeten Krankenversicherungsgesetzes. Im Beitrag wird auf den strukturellen Hintergrund dieser Debatte eingegangen.
Zunächst wird gezeigt, wie das auf dem Solidaritätsprinzip beruhende Versicherungsmodell der ersten Arbeitervereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch beim liberalen Bürgertum Schule machte. Anschliessend erfolgt ein Überblick über den Zustand der Krankenversicherung zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Mit welcher Unterstützung konnte 1903 ein privat Versicherter im Krankheitsfall rechnen? Wie wurde ein solcher Fall abgewickelt? Die Gegenüberstellung der Argumente von Befürwortern und Gegnern einer obligatorischen Krankenversicherung führt dann zur Frage, wie die Hilfsgesellschaften auf die sich entschieden durchsetzende Moderne (zu der hier auch das Prinzip der staatlichen Krankenversicherung gerechnet wird) reagierten und wie sie sich ihr widersetzten. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die dynamischen Aspekte des Widerstands zu legen. Die (positiven) Erfahrungen, die man in der Westschweiz mit den privaten Kassen gemacht hatte, gaben der Diskussion wichtige Impulse. So zollte das 1918 verabschiedete Krankenversicherungsgesetz diesem Prinzip einen wichtigen Tribut. Dennoch konnte nicht verhindert werden, dass viele Privatversicherungen später zu öffentlichen Krankenkassen wurden. Die Übernahme eines zu Beginn des Jahrhunderts noch umstrittenen Modells führte nun dazu, dass sich die privaten Kassen der Arbeiterbewegung aus der sie ja ursprünglich hervorgingen immer mehr entfremdeten. Das Prinzip der privaten Sozialversicherung blieb dennoch in den Schweizer Sozialwerken fest verankert wohl nicht zuletzt durch den mächtigen Einfluss des Verbands der Privatversicherer (FSSMSR), der im Jahr 1900 die Lex Forrer zu Fall gebracht hatte.

(Übersetzung: Jonas Römer)

Erschienen in: traverse 2000/2, S. 79