In der Innovationsforschung wird vermehrt die These vertreten, dass das Verhält-nis von Risiko (risk) und Belohnung (reward) gesellschaftlich nicht adäquat ver-teilt ist. Am Beispiel der frühen Kerntechnologiedebatte in der Schweiz wird die-se Ansicht zur Diskussion gestellt. Es wird gezeigt, wie sich die Risikoverteilung im 1959 in Kraft getretenen Bundesgesetz für die friedliche Verwendung der Atomenergie und den Strahlenschutz manifestierte und welches Risikoverständnis der Schweiz darin zum Ausdruck kam.
Die Schweiz beschritt bei der Ausformulierung des neuen Gesetzes einen Son-derweg: Anders als zahlreiche Länder bereitete sie ein Regelwerk vor, das primär die Interessen der Privatwirtschaft berücksichtigte und dieser grösstmögliche Freiheit liess. Die bedeutendste Massnahme zur wirtschaftsrechtlichen Sonderstel-lung bestand in der Beschränkung der Haftpflicht. Der Bundesrat entschloss sich, den Unternehmungen der Atomwirtschaft das Haftpflichtrisiko abzunehmen und es gleichsam gesetzlich zu sozialisieren. Er stufte die Wahrscheinlichkeit eines schwerwiegenden schadenstiftenden Ereignisses als «sehr gering», wenn auch nicht ausschliessbar ein. Der Staat als «insurer of last resort» sollte dabei das grösste Risiko auf sich nehmen, die Privatwirtschaft entlasten und das Problem der Nachfrage nach mehr Energie lösen. Der Ertrag kam deshalb sowohl der Pri-vatwirtschaft als auch der Gesellschaft in Form von billiger Energie und grösserer Unabhängigkeit vom Ausland bei der Energieversorgung zugute. Dass damit das Problem der Entsorgung der nuklearen Abfälle ebenso ungelöst blieb wie die Nicht-Versicherbarkeit einer ökologischen Katastrophe, erweist sich erst aus heu-tiger Sicht als eine nicht aufgehende Gleichung.
Unternehmerisches Risiko? Schweizer Atompolitik der 1950er-Jahre
Erschienen in: traverse 2014/3, S. 94