Die so genannte häusliche Gewalt: von der räumlichen zur identitären Grenzziehung. der Fall Frankreich

(Violences dites «domestiques»: des frontières spatiales aux frontières indentitaires: le cas français)

Ist die so genannte häusliche Gewalt anders geartet als andere Formen von Gewalt? Diese Frage zu stellen macht Sinn in einer französischen Gesellschaft, in der heute die Unsichtbarkeit der Gewalt gegen Frauen diskutiert wird, und zwar besonders die Gewalt, die sich im privaten Raum abspielt. Der im September 2004 veröffentlichte Leitfaden für die Kampagne zum «Kampf gegen Gewalt innerhalb von Paarbeziehungen» der Direction des affaires criminelles et des grâces illustriert die Aktualität dieser Infragestellung der spezifischen Eigenschaften häuslicher Gewalt und insbesondere diejenige der Gewalt in Paarbeziehungen. Wovon spricht man, wenn man sich für diesen Typ von Gewalt interessiert? Gewalt ist ganz allgemein dadurch definiert, dass sie ei-nen Angriff auf die persönliche Integrität konstituiert. Lange Zeit als Gegensatz betrachtet, wird die so genannte häusliche Gewalt gleichzeitig durch den Raum, in dem sie stattfindet demjenigen des Hauses, und durch die Nähe der Beziehungen familiär oder emotional zwischen dem Urheber und dem Opfer der Gewalt charakterisiert.
Während die häusliche Gewalt lange mit der privaten Sphäre in Verbindung gebracht und folglich der öffentlichen Beurteilung entzogen wurde, ist sie heute Gegenstand von öffentlichen Erhebungen und wissenschaftlichen und politischen Debatten. Dass derartige Gewalttaten neu unter Strafe gestellt werden, ist nicht in einer Zunahme des Phänomens an und für sich begründet, sondern hängt vielmehr mit einer kollektiven Sensibilisierung zusammen, die auch Akteure des öffentlichen Raums umfasst. Nach einer Darstellung der gesetzlichen Entwicklungen behandelt der Beitrag die Schwierigkeiten bei der Benennung, Quantifizierung und Bestrafung häuslicher Gewalttaten. Eingriffe von Recht und Rechtsprechung gegenüber häuslicher Gewalt haben erst vor Kurzem eingesetzt. Diese Entwicklung erfolgte parallel zu Fortschritten im Familienrecht, in dem der Vater und Ehemann nach und nach seine Privilegien innerfamiliärer Rechtsgewalt verlor. Damit jedes Familienmitglied vor Gewalt von seiten seiner Nächsten geschützt ist und damit es keine rechtliche oder faktische Immunität von häuslichen Gewalttätern mehr gibt, ist das Strafrecht an die Stelle des Zivilrechtes getreten. Gegenwärtig wird die Praxis der Rechtsprechung an die Entwicklung des Strafrechts angepasst. Die Analyse der Definition und des Umgangs mit «häuslicher» Gewalt erlaubt uns, die sozialen und politischen Implikationen der räumlichen und identitären Grenzziehungen zu beleuchten, durch welche das Öffentliche und das Private getrennt wurden.

Erschienen in: traverse 2005/2, S. 84