Kolonial – lokal – digital: Chancen und Herausforderungen neuer Erinnerungsangebote

Ein Beitrag von Barbara Miller, Linda Ratschiller, Simone Rees

Public History – wozu? Koloniale Vergangenheit und Rassismus in der Gegenwart

Die Öffentlichkeitsbedeutung von Geschichte steckt in einem Hoch. In der Schweiz erregt insbesondere auch der Umgang mit und die Deutung der kolonialen Vergangenheit die Gemüter. Auffallend an den Debatten ist, dass sich diese häufig an normativen Fragen entzünden:[1] Sollen Schaumzucker-Süssspeisen und Strassennamen umbenannt werden? Sollen bestimmte Kinderbücher noch gedruckt werden? Sollen historische Inschriften und Statuen demontiert werden? Sollen weisse Männer Dreadlocks tragen und mit Reggae-Musik Geld verdienen dürfen? Dabei handelt es sich um sehr kontrovers debattierte Themen. Die heftigen Reaktionen zeigen, dass diese öffentlichen Belege für unsere koloniale Vergangenheit und rassistische Gegenwart das vorherrschende Erinnerungsparadigma in Frage stellen, wonach es in der Schweiz keine Verbindungen zu Kolonialismus und Rassismus gab.

Die Vehemenz, mit der diese Auseinandersetzungen geführt werden, lässt sich durchaus mit der öffentlichen Aufarbeitung und Anerkennung der Rolle der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus in den 1990er-Jahren vergleichen.[2] Auch damals widersprachen wissenschaftliche Erkenntnisse zunächst dem dominierenden Erinnerungsdiskurs und gefährdeten so das nationalhistorische Selbstverständnis der Schweiz. Eine weitere Parallele besteht in der Bedeutung von Aktivist:innen, Bürger:inneninitiativen und regionalen Public History Projekten für den initiierten Wandel der historischen Wahrnehmung. In beiden Fällen waren sie es, die auf erste Verbindungen hinwiesen, lokale Beispiele hervorhoben und die Öffentlichkeit auf heutige Auswirkungen dieser historischen Verflechtungen der Schweiz aufmerksam machten.

Die Skepsis, mit der Generationen von Historiker:innen – in Anlehnung an Maurice Halbwachs, Pierre Nora und andere – der Öffentlichkeitsbedeutung von Geschichte begegneten, ist einer zunehmenden Bereitschaft, Erinnerungskulturen zu untersuchen und selbst Einfluss auf das öffentliche Geschichtsbild zu nehmen, gewichen.[3] Die Public History hat sich als Folge mittlerweile auch an europäischen Universitäten etabliert, nicht zuletzt dank der Bedeutung des Holocaust als Bezugspunkt für die europäische Integration.[4]

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob auch die Geschichte des Kolonialismus zu einem Fluchtpunkt einer gemeinsamen europäischen Geschichte werden könnte. Denn die Thematisierung der kolonialen Vergangenheit kann das kollektive Gedächtnis um wichtige Aspekte erweitern. Die globale Dimension der europäischen Geschichte wird als inhärenter Teil ihrer Erinnerungskultur verankert, womit den Menschen, die in Europa leben und die Folgen dieser Verflechtungen im Alltag weiterhin zu spüren bekommen, eine Stimme gegeben wird. Die heute sich stetig pluralisierende und weltweit vernetzte Gesellschaft steht vor zahlreichen Herausforderungen, die uns zwingen, eine tiefgreifende Neubewertung unserer Vergangenheit vorzunehmen. Es ist unerlässlich, einen Dialog zu etablieren, der den aktuellen gesellschaftlichen Sensibilitäten gerecht wird, während er gleichzeitig unsere Geschichte in ihrer Gesamtheit respektiert.

Unsere Webseite colonial-local.ch soll im schweizerischen Kontext einen Beitrag dazu leisten. Sie versucht, die hitzigen Debatten in Zeitungen und sozialen Medien historisch zu kontextualisieren und dadurch zu einer differenzierteren Auseinandersetzung anzuregen. Sie vermittelt wissenschaftlich fundierte Inhalte und soll Nutzer:innen dafür sensibilisieren, dass die Vergangenheit von Ambivalenzen geprägt war, womit eine kritische Analyse der Gegenwart in der breiten Gesellschaft ermöglicht werden soll.

Colonial-local.ch fokussiert dabei auf einen regionalgeschichtlichen Zugang am Beispiel Freiburgs. Diese ländlich geprägte Region wurde bis anhin im Gegensatz zu den wirtschaftlichen und politischen Zentren der Schweiz kaum mit der Kolonialgeschichte in Verbindung gebracht. Gerade diese Position eröffnet Möglichkeiten, um die Omnipräsenz und breite Verankerung kolonialer Verflechtungen in allen Teilen der Schweizer Bevölkerung aufzuzeigen. Die Webseite illustriert einerseits die Beteiligung von Schweizer:innen am Kolonialismus, zum Beispiel als Söldner, Missionar:innen, Auswander:innen oder Rassenforscher. Andererseits belegt die Webseite, dass diese Verbindungen Rückwirkungen auf die lokale Bevölkerung zeigten und in Kirchen und Museen, in Wissenschaft und Schule, in Konsumgütern und Denksystemen präsent waren und teilweise bis heute weiterwirken.

Die Webseite als Medium der Geschichtsvermittlung

Die Art und Weise, wie Geschichte vermittelt, erzählt und rezipiert wird, hängt massgeblich von der verwendeten Medienform ab. Die Geschichtswissenschaft ist nach wie vor durch ein Primat des gedruckten Buchs geprägt. Alternative Formate, um Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu diffundieren, erleben aktuell einen Aufschwung. Aber obwohl viele Historiker:innen seit Jahrzehnten mit Bild- und Filmquellen arbeiten und mittlerweile auch digitale Quellen berücksichtigen, wie das Aufkommen der Digital History illustriert, übersetzt die Geschichtswissenschaft ihre Erkenntnisse bis anhin vor allem in textbasierte Vermittlungsformen.

Dies erscheint nicht nur vor dem Hintergrund der zunehmenden Nachfrage nach geschichtsvermittelnden Inhalten im digitalen Raum als bedauerlich. Vielmehr bergen digitale Formate auch grosses Potenzial für die Geschichtsvermittlung. Sie ermöglichen Historiker:innen, Einfluss auf die Gestaltung von Erinnerungskulturen zu nehmen, die sich in den letzten Jahren stark pluralisiert und an gesellschaftspolitischer Bedeutung gewonnen haben. Am Beispiel von colonial-local.ch kann gezeigt werden, welche Chancen die digitale Bereitstellung historischer Inhalte eröffnet, aber auch welche spezifischen Herausforderungen dies mit sich bringt, die sorgfältig abgewogen und angegangen werden müssen.

Reichweite, Nachvollziehbarkeit, Interaktivität – Die Chancen

Webseiten bieten in doppelter Hinsicht neue Möglichkeiten für Historiker:innen: Zum einen können Erkenntnisse und Erzählungen zur Vergangenheit in alternativer Form vermittelt und kommuniziert werden. Zum anderen eröffnen sie Kanäle für einen Austausch zwischen Geschichtswissenschaft und breiter Öffentlichkeit.

Geschichtsvermittlung im digitalen Raum kann von den Vorteilen und Spezifika sogenannter «quartärer Medien» profitieren.[5] Eine Webseite ist mit Desktop- und Mobilgeräten leicht zugänglich, was für die Breitenwirkung zentral ist; sie kann durch stete Bewirtschaftung langlebig gehalten werden, was die Möglichkeit einer nachhaltigen Beschäftigung mit dem Thema eröffnet; sie ist interaktiv und kann entsprechend erweitert und angepasst werden.

Darüber hinaus erlaubt die gleichzeitige Bereitstellung von Primärquellen und wissenschaftlichen Erkenntnissen eine fundiertere und glaubwürdigere Repräsentation von Geschichte. Wie die Untersuchungen von Paul Ashton und Paula Hamilton zeigen, verleiht die Öffentlichkeit eher jenen Geschichten Autorität, die sie anhand von Spuren der Vergangenheit selbst nachvollziehen kann.[6] Im Gegensatz zu gedruckten Geschichtspublikationen bieten digitale Medien die Möglichkeit, direkt auf die Quellen und damit auch auf die Interpretationsgrundlage der Historiker:innen zuzugreifen.[7] Während in der traditionellen Geschichtsschreibung die gewonnen Erkenntnisse nur abstrakt in den Fussnoten nachvollziehbar sind, können auf Webseiten historisch-methodische Vorgehensweisen zu Gunsten des Vertrauens von Nutzer:innen konkret erfahrbar gemacht werden.[8] So erfahren die Nutzer:innen von colonial-local.ch zum Beispiel im Zusammenhang mit Nova Friburgo nicht nur die Geschichte dieser Schweizer Kolonie in Brasilien, sondern können auch direkt auf Originalquellen zugreifen und erhalten zudem Informationen zu weiterführender Literatur.


Abbildung 1: Screenshot https://colonial-local.ch/nova-friburgo

Gerade im Kontext der schweizerischer Kolonialgeschichte sind Webseiten ideal für die Vermittlung historischen Wissens. Der zunehmenden Anzahl geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen und Erkenntnisse zur kolonialen Vergangenheit der Schweiz steht nämlich das nach wie vor verbreitete Geschichtsbild einer kolonialen Unschuld in der breiten Bevölkerung gegenüber. So konnten Historiker:innen mittlerweile zeigen, dass die Schweiz nicht trotz ihrer politischen Neutralität, sondern gerade wegen ihr erfolgreich am Kolonialismus mitwirken konnte. Keine eigenen Kolonien zu besitzen, ermöglichte den Schweizer:innen, in transimperialen Netzwerken zu agieren und zu verschiedenen, teils konkurrierenden kolonialen Projekten beizutragen. Diese Befunde gefährden fest verankerte Nationalmythen und stossen folglich auf Ablehnung.  Am Thema Kolonialismus wird somit die Diskussion um die Rolle und Funktion der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung für die Erinnerungskultur besonders virulent.

Die Notwendigkeit, das öffentliche Vertrauen in historische Erkenntnisse zu gewährleisten, ergibt sich aus der engen Verbindung des Narrativs der Schweiz als koloniale Abseitssteherin mit der Vorstellung einer schweizerischen «racelessness»[9] und «weissen Unschuld»[10]. Wie die Debatten in den vergangenen Jahren gezeigt haben, hat dieses Selbstbild eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart in einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft stark gehemmt, weshalb es entscheidend ist, dass das in den letzten Jahren erworbene akademische Wissen in die Gesellschaft diffundiert und angenommen wird. Nur wenn koloniale Hintergründe und rassistische sowie rassifizierende Strukturen in allen Bereichen des täglichen Lebens erkannt, benannt und verstanden werden, können sie letztlich überwunden werden.

Eine weitere Chance digitaler Geschichtsvermittlung eröffnet sich dadurch, dass Inhalte nicht zwangsläufig in linearer Textform präsentiert werden müssen. Für colonial-local.ch wurde ein mehrdimensionales Layout entwickelt, in dem die dargestellten Geschichten durch animierte Einblendungen gestört und dadurch auch gebrochen werden. Unterschiedliche Farbkodierungen lassen sowohl zentrale Aussagen als auch Verknüpfungen zur Gegenwart ins Auge springen und sollen dadurch zu einer kritischen Reflexion anregen.


Abbildung 2: Screenshot https://colonial-local.ch/schokolade Der rote Einschub erscheint erst beim Scrollen, wodurch die Lesart der Geschichte gestört wird. Mit Klick auf die Icons lässt sich der Inhalt erweitern und neue Aspekte werden eröffnet. Die gelben Textblöcke schlagen eine Verbindung zur Gegenwart.

Dieses Design dient der Dekonstruktion von Vorstellungen oder Vorurteilen und verknüpft die koloniale Vergangenheit mit heutigen Gesellschaftsfragen. Es ermöglicht aber auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit historiografischen Problemen, die gerade bei kolonialen Erzählungen angesprochen und veranschaulicht werden müssen: Wie kann die Geschichtswissenschaft mit der Asymmetrie von Kolonialarchiven umgehen und wie können vermeintlich stumme Zeug:innen sichtbar gemacht werden?[11] So lassen sich beispielsweise beim Thema Söldnertum nicht nur die die Biografien von drei Freiburgern in fremden Diensten aufklappen, sondern auch das Feld «Der Unbekannte», welches genau diese Fragen adressiert.


Abbildung 3: Screenshot https://colonial-local.ch/soeldnertum

Schliesslich ermöglicht colonial-local.ch es den Nutzer:innen auch zu verstehen, dass nicht nur Wirtschaft, Religion, Kultur, Wissenschaft oder Politik mit dem Kolonialismus verflochten waren, sondern dass diese Aspekte sich gegenseitig beeinflussten und beeinflussen. Solange diese dichten Netze und komplexen Verbindungen nicht berücksichtigt werden, können die Auswirkungen, die Langlebigkeit und die Reichweite des Phänomens Kolonialismus nicht erklärt und seine Folgen bis heute nicht vollständig verstanden werden. Das entwickelte Webdesign eröffnet die Möglichkeit, die vielfältigen Verflechtungen aufzuzeigen, statt einzelne Themen isoliert aneinanderzureihen. Dieses «Systemdenken»[12] stimuliert ein multiperspektivisches Verständnis, indem es die streng chronologische Vermittlung von Geschichte aufbricht. Ein pluralistischer Blick auf die Vergangenheit entspricht den heutigen Herausforderungen der Identitäts- und Geschichtskonstruktion, indem er global ausgerichtetes Wissen und Handeln fördert.[13]


Abbildung 4: Screenshot https://colonial-local.ch/wissenschaft  Das „übrigens“-Icon stellt Querverweise auf andere Webseiteninhalte her.

Über diese vielfältigen Chancen für die Geschichtsvermittlung hinaus bestechen Webseiten insbesondere durch ihre interaktiven Möglichkeiten. Anstelle des üblichen Top-Down-Wissenstransfers kann das Publikum aktiv partizipieren und mitgestalten. Colonial-local.ch ist als ein wachsendes Archiv konzipiert. Besucher:innen haben erstens die Möglichkeit, historische Quellen aus privaten Sammlungen einzureichen und so zur Vervollständigung der (post)kolonialen Geschichte der Region beizutragen. Das Publikum kann das koloniale Archiv mitgestalten und darüber hinaus historische Fragestellungen und Vorgehensweisen anstossen und mitprägen. 


Abbildung 5: Screenshot von https://colonial-local/blog. Um der sensiblen Thematik Rechnung zu tragen, können Blog-Beiträge nur via Moderation durch das Projektteam aufgeschaltet werden.

Neben der Erweiterung des Quellen- und Wissensbestandes zu diesen historischen Verflechtungen dient zweitens der Blog der Website als Plattform für die Stimmen der von Rassismus betroffenen Menschen und ermöglicht so die Integration ihrer Perspektiven, Erfahrungen und Erinnerungen in die Geschichtsschreibung. Die Diskursteilnahme von Akteur:innen abseits der etablierten Autor:innenschaft rückt die Geschichtsproduktion weiter in die Gesellschaft und hilft bei ihrer Verankerung. Diese Pluralisierung der Perspektiven und Stimmen kann dabei helfen, das Bild der Vergangenheit zu erweitern. 

Angebot, Rezeption und Nachfrage – Die Herausforderungen

Die vielfältigen Möglichkeiten und Chancen für die Geschichtsvermittlung via Webseiten allgemein, wie auch für die Kolonialgeschichte im Speziellen, stellen gleichzeitig auch Herausforderungen dar. Exemplarisch für colonial-local.ch werden hier drei Problemfelder angesprochen und unser Umgang damit vorgestellt: Die Sprache, die Handhabung von problematischen visuellen Quellen und die Gewährleistung einer breiten Reichweite sowie frequentierten Nutzung.

Auf sprachlicher Ebene ergaben sich bei der Gestaltung der Webseite einerseits im Kontext der in den Quellen verwendeten Begriffe Schwierigkeiten, da diese Begriffe nicht selten mehr oder weniger offensichtlich rassistischer Natur sind. Werden sie übermässig abgebildet und historisch nicht eingeordnet, besteht die Gefahr, dass sie unkritisch rezipiert und allenfalls sogar reproduziert werden. Andererseits bildet die Sprache generell eine Herausforderung für die Vermittlung von historisch komplexen Themen: Die regionale Kolonialgeschichte soll auf der Webseite gerade auch für ein jüngeres Publikum attraktiv und nachvollziehbar sein, ohne gleichzeitig unsachgemässe Simplifizierungen, Trivialisierungen und Verniedlichungen zu produzieren.

Eine Antwort darauf stellt das auf der Webseite integrierte Glossar dar, welches an den gegebenen Stellen direkt verlinkt wurde und auch einen generellen Leitfaden zur Lektüre von kolonialen Quellen und Literatur zur Kolonialgeschichte bietet. Die Webseite ist weiter sprachlich so aufgebaut, dass sie möglichst präzise und sensibel vermittelt, deutlich zwischen der Sprache der Quellen und jener der Analyse differenziert und rassistische Begriffe sowie koloniale Denkfiguren systematisch problematisiert.


Abbildung 6: Screenshot von https://colonial-local.ch/mission. Bei allen unterstrichenen Begriffen erscheint auf Klick der entsprechende Glossarartikel.

Die Kolonialgeschichte umfasst weiter gerade hinsichtlich visueller Abbildungen einen sehr umfangreichen, aber auch in der Verwendung äusserst heiklen Quellenkorpus. Koloniale Fotografien entstanden immer in asymmetrischen Machtkonstellationen, teils auch unter Zwang, wodurch der Fotoapparat zu einem Instrument der Kolonisierung wurde.[14] Fotografien waren an der Produktion der visuellen Kolonialkultur massgeblich beteiligt und halfen bei der Perpetuierung spezifischer Stereotype und Machtverhältnisse. Die eurozentrische Perspektive, der häufig stark inszenierte und arrangierte Charakter ihrer Entstehung, die verwendeten technischen Mittel wie die lange Belichtungszeit zur Akzentuierung des Unterschieds zwischen schwarz und weiss – all diese Aspekte gilt es bei der heutigen Betrachtung zu reflektieren und zu berücksichtigen. Ohne diese wichtigen Einsichten aus der Visual History droht eine undifferenzierte Verwendung von höchst sensiblen Quellen, eine Reproduktion kolonialer Blickregime sowie eine erneute Objektivierung (ehemals) kolonisierter Menschen.[15]

In Anbetracht dieser Problemlage haben wir uns auf colonial-local.ch dafür entschieden, visuelles Material nur sparsam einzusetzen. Die Nutzer:innen werden bei den entsprechenden Bildern zudem auf den Eintrag zur Kolonialfotografie im Glossar verwiesen, in dem die Hintergründe und Stolpersteine erklärt werden. Mit dieser Einordnung hoffen wir dazu beizutragen, dass bereitgestellte visuelle Quellen mit der erforderlichen Vorsicht und Sensibilität betrachtet werden.

Da das online-Format allerding keine kontrollierte Rezeption von visuellen Quellen erlaubt, wurden offen rassistische, entwürdigende und entmenschlichende Fotografien aus bildethischen Gründen nicht integriert.[16] Insbesondere das erneute Abbilden derjenigen Menschen, die zu Unterhaltungszwecken einem europäischen Publikum in Zoos oder an Jahrmärkten präsentiert wurden, birgt die Gefahr, den kolonialen Gewaltakt des Ausstellens zu wiederholen. Allzu häufig werden heute gerade solche Bilder unkritisch und ohne Kontextualisierung als Belege für die Unmenschlichkeit des Kolonialismus und seiner Denkweisen herangezogen, wodurch voyeuristische und sensationalisierende Effekte erzeugt werden und koloniale Sehgewohnheiten nicht selten reproduziert statt gebrochen werden.[17]

Schliesslich stellt die Gewährleistung der frequentierten Nutzung und Rezeption bei digitalen Formaten eine Herausforderung dar. Wie kann sichergestellt werden, dass Webseiten, welche historische Inhalte aufarbeiten und vermitteln, auch besucht werden und so die Inhalte in die breite Öffentlichkeit diffundiert werden können? Dieser Frage sind wir mit zwei Strategien begegnet.

Erstens ist die Webseite auf drei verschiedenen Plattformen der sozialen Medien vertreten. In regelmässigen Posts wird dort auf neue Entwicklungen des Public-History-Projekts, aktuelle Blog-Beiträge und inhaltliche Aspekte der Webseite verwiesen, wodurch auch die sozio-politische Relevanz der Webseite für aktuelle Debatten und die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart akzentuiert werden kann.

Zweitens wurde colonial-local.ch sprachlich und inhaltlich explizit als Bildungswebseite für den Schulunterricht konzipiert. Im Austausch mit Lehrkräften, Didaktiker:innen, Expert:innen der Rassismusprävention und Schüler:innen werden derzeit in einem Folgeprojekt Lernmedien entwickelt, welche die multimediale, interaktive Nutzung der Webseite in Schulen auf Sekundarstufe I und II begleiten und erweitern. In diesem Zusammenhang entsteht auch eine Quellensammlung mit weiteren schriftlichen und visuellen Quellen ausschliesslich für Lehrpersonen, die im Unterricht deren kritische Rezeption und differenzierte Interpretation garantieren können.

Es wurde deutlich, dass seitens der Lehrkräfte ein grosses Interesse besteht, den Schulunterricht zu postkolonialisieren, dass verständliche und attraktive Materialien dazu allerdings nach wie vor weitgehend fehlen. Dabei zeigt sich insbesondere die regionalgeschichtliche Zugangsweise der Webseite, anhand der die Schüler:innen den kolonialen Spuren und damit auch der Genealogie des heutigen Rassismus in ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt und geografischen Umgebung nachgehen können, als fruchtbar.

Die begleitenden, sich in Produktion befindenden Arbeitsmaterialien richten sich aber nicht nur an das frankophone und deutschsprachige Freiburg, sondern werden überregional konzipiert und können in Verbindung mit colonial-local.ch im Sinne eines «exemplarischen Lernens» schweizweit Anwendung finden. Die nachhaltige Verfügbarkeit der Webseite und das darauf allgemein zugängliche Grundlagenmaterial ermöglicht es, dass Lehrpersonen das Thema niederschwellig in den Schulunterricht integrieren können, wobei sich die Anwendung nicht allein auf den Geschichtsunterricht beschränkt, sondern hinsichtlich der Weiterwirkung kolonialer Strukturen in der heutigen Zeit vielfältige Anknüpfungspunkte innerhalb des Lehrplans ermöglicht.[18]

Fazit

Die Aktualität des Kolonialismus für die Schweizer Öffentlichkeit erschliesst sich nur, wenn sie als Reaktion auf grundlegende Veränderungen der Gegenwart begriffen wird. Die zunehmende Migration und Mobilität haben zu einer Pluralisierung der Erinnerungslandschaft geführt, in der für grosse Teile der schweizerischen Bevölkerung eine entgrenzte Geschichte  den selbstverständlichen Bezugsrahmen bildet. Dabei spielt die Kolonialgeschichte eine entscheidende Rolle, da sie nicht länger die Vorstellung einer helvetischen Insel innerhalb Europas bedient, sondern die Schweiz als Teil einer globalen Kolonialkultur verortet. Somit erscheint nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Gegenwart in einem neuen Licht. Verschiedene Organisationen und lokale Initiativen machen mit ihren kolonialhistorischen Angeboten auf den aktuellen und alltäglichen Rassismus aufmerksam. Sie thematisieren strukturellen Rassismus erinnerungspolitisch vor der Folie des Kolonialismus und tragen damit zu einer Pluralisierung der historischen Erfahrungen in der Schweiz bei.

Die gesellschaftspolitische Relevanz des Themas trifft gleichzeitig auf eine Diversifizierung der Medienlandschaft. Public History spielt sich heute nicht mehr exklusiv in Kollektivmedien wie Museen, Fernsehen oder Printmedien ab, sondern immer mehr in individualisierten, digitalen Formaten. Webseiten und soziale Medien erweitern historisches Wissen, reagieren auf eine Bandbreite an Interessen und machen spezifische Erinnerungsangebote. Diesen Entwicklungen gilt es von Seiten der Geschichtswissenschaft Rechnung zu tragen, um die öffentliche Aushandlung der Erinnerung entscheidend mitzuprägen. Digitale Geschichtsvermittlung mit ihren vielfältigen Möglichkeiten erscheint geradezu ideal, um die hermetische Abgeschiedenheit des wissenschaftlichen Elfenbeinturms aufzubrechen, neue Brücken zwischen historischer Forschung und Öffentlichkeit zu schlagen und Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse zu schaffen. Nur durch eine plurale und breit verankerte Erinnerungskultur können die aktuellen Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens angegangen werden.


[1] Sebastian Conrad, «Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert», Merkur 867 (2021), S.  5–17.

[2] Christina Späti, «Die Schweiz und der Holocaust: Rezeption, Erinnerung und museale Repräsentation», in: Andrea Brait, Anja Früh (Hg.), Museen als Orte geschichtspolitischer Verhandlungen. Ethnografische und historische Museen im Wandel. Itinera: Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte 43 (2017), S. 61–76; Jakob Tanner, «Die Krise der Gedächtnisorte und die Havarie der Erinnerungspolitik. Zur Diskussion um das kollektive Gedächtnis und die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges», traverse. Zeitschrift für Geschichte 6 (1999) 1, S. 16–37.

[3] Astrid Erll, Kollektive Gedächtnis- und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2017.

[4] Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021; Natan Sznaider, Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus, München 2022.

[5] Der Begriff quartäre Medien wird in der Kommunikationswissenschaft zur Bezeichnung von internetbasierten Tertiärmedien verwendet, die durch ihre interaktiven Momente die Zuschreibung von Sender und Empfänger flexibilisieren. Roland Burkart, Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien 2021, S. 39.

[6] Paul Ashton, Paula Hamilton, History at the Crossroads. Australians and the Past, Sidney 2010.

[7] Meg Foster, «Online and Plugged In? Public History and Historians in the Digital Age», Public History Review 21, S. 1–19.

[8] Cauvin Thomas, Public History. A Textbook of Practice, New York 2016.

[9] Noemi Michel, «Sheepology. The Postcolonial Politics of Raceless Racism in Switzerland», Postcolonial Studies 18, 4 (2015) S. 410–426.

[10] Gloria Wekker, White Innocence. Paradoxes of Colonialism and Race, Durham 2016.

[11] Damit reagiert die Webseite auf die Konzepte von ‘silence‘ und ‚invisibility‘ in den Geschichtswissenschaften. Michel-Rolph Trouillot, Silencing the Past. Power and the Production of History, Boston 1995. Anne Firor Scott, «On Seeing and Not Seeing. A Case of Historical Invisibility», The Journal of American History 71, 1 (1984), S. 7–21.

[12] Peter Senge, John Sterman, «Systems Thinking and Organizational Learning. Acting Locally and Thinking Globally in the Organization of the Future», European Journal of Operational Research 59 (1992), S. 137–150.

[13] Johanna Forster, «Globale Geschichtsperspektiven und soziale Identifikation. Bildungstheoretische Überlegungen», in: Susanne Popp, Johanna Forster (Hg.), Curriculum Weltgeschichte. Interdisziplinäre Zugänge zu einem global orientierten Geschichtsunterricht, Schwalbach 2003, S. 105–121.

[14] Eleanor Hight, Gary Sampson, «Introduction. Photography, ‘Race’, and Post-Colonial Theory», in: Dies. (Hg.), Colonialist Photography. Imag(in)ing Race and Place, London, New York 2002, S. 1–19.

[15] Zur Theorie des «colonial gaze» siehe Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, New York 2008, im Original publiziert unter dem Titel Peau noire, masques plancs im Jahr 1952.

[16] Im Themendossier «Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet» auf dem online Nachschlagewerk visual-history.de werden Chancen und Problemen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von historischem Bildmaterial in Online-Umgebungen nachgegangen. Siehe dazu vor allem den Beitrag Matthias Harbeck, Moritz Strickert, «Freiwilligkeit und Zwang. Eine Diskussion im Kontext der frühen ethnologischen Fotografie», online: https://visual-history.de/2020/09/28/freiwilligkeit-und-zwang/ (19.10.2023). Siehe auch: Sophie Junge (Hg.), Den Blick erwidern. Fotografie und Kolonialismus.  Fotogeschichte: Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 41, Heft 162 (2021).

[17] So argumentiert etwa auch die deutsche Historikerin und frühe Vertreterin der Visual History Forschung Annette Vowinckel im Zusammenhang mit visuellen Quellen des Kolonialismus in Schulbüchern, Dörte, «‘Visual History’ – Forschung. Neue Sicht auf alte Fotos», online: https://www.deutschlandfunk.de/visual-history-forschung-neue-sicht-auf-alte-fotos-100.html (19.10.2023).

[18] Das didaktische Prinzip der Exemplarität wurde programmatisch von Martin Wagenschein entwickelt. An Fallbeispielen sollen Schüler:innen etwas «Fundamentales» zu erfassen lernen, worauf über Transfer, Deduktion, Induktion oder Analogien auf das Allgemeine, auf Besonderheiten, Gleichheiten und Unterschiede geschlossen werden kann. Siehe Martin Wagenschein Martin, Verstehen lehren, Basel 1999.


Empfohlene Zitierweise/Suggested citation

Barbara Miller, Linda Ratschiller, Simone Rees, «Kolonial – lokal – digital: Chancen und Herausforderungen neuer Erinnerungsangebote», traverse 30/3 (2023), online+, https://revue-traverse.ch/kolonial-lokal-digital-chancen-und-herausforderungen-neuer-erinnerungsangebote/.



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