Patriziat mal anders: Objektarchive und Sakrallandschaften

Ein Beitrag von Michèle Steiner und Christine Zürcher

Am 5. Juni 1702 notierte die Sœur économe, die Wirtschafterin des Solothurner Klosters Visitation, im Rechnungsbuch die Einnahme von 602 Pfund «Resu en charitez de nos soeur, et de quelque personne, pour nostre soleille» sowie die Ausgabe von «doeux cant soixante fran pour nr soleille».1

Weitere Hinweise zu diesem Objekt finden sich in den Annalen derselben Klostergemeinschaft. Dort ist im Nachruf auf die 1711 verstorbene «Sœur Marie Hélène Elisabeth Vallier de St. Aubin» nachzulesen, dass die Schwester «nous fit faire un beau Soleil d’argent doré, enrichi de pierreries et d’ouvrages émaillés qui représentent la Passion de Notre Seigneur. C’est un chef d’oeuvre, estimé des meilleurs connaisseurs et un don précieux provenant de la libéralité de plusieurs personnes charitables, dévouées à notre Communauté».2

Strahlenmonstranz im Kirchenschatz des Klosters Visitation, gestiftet von der Oberin Sr. Marie Hélène Élisabeth Wallier mit Unterstützung zahlreicher Nonnen und deren Eltern.
Vergoldetes Silber, hergestellt von Johann Heinrich Büeler, um 1702.
© Kantonale Denkmalpflege Solothurn, Jürg Stauffer (Langenthal), 2012.

Die hier bezeichnete Strahlenmonstranz entstand im Auftrag der damaligen Klostervorsteherin Sr. Marie Hélène Elisabeth Wallier (1651–1711) und wurde von mehreren Schwestern des Klosters Visitation sowie deren Eltern gemeinschaftlich gestiftet.3

Sie befindet sich noch heute an ihrem ursprünglichen Aufbewahrungs- und Nutzungsort in der inneren Sakristei des Klosters und konnte im Rahmen eines Inventarisierungs- und Publikationsprojekts zu den Sakralbauten der Stadt Solothurn 2010 erstmals erfasst und in einem beschreibenden Verzeichnis dokumentiert werden.4 Während die eingangs zitierten Schriftquellen etwas über Entstehungszeit, Finanzierung und Auftraggeberin aussagen und auf einige der verwendeten Materialien wie vergoldetes Silber, Steinbesatz und Emailarbeiten hinweisen, lässt sich die Autorschaft dagegen einzig mittels der am Objekt selbst eingeprägten, qualitätsbezeugenden Beschau- sowie Meisterzeichen bestimmen. Diese weisen die Monstranz als ein Werk des Solothurner Goldschmieden Johann Heinrich Büeler (1647–1733) aus.5

Die 92 Zentimeter hohe Hostienmonstranz präsentiert sich als überaus reich gestaltetes Werk. Der gestufte, querovale Vierpassfuss über mehrfach profiliertem Standring zeigt getriebenes Rankenwerk, vier Engelsfiguren und geflügelte Engelsköpfe sowie vier von Amethysten gefasste Emailmedaillons mit Darstellung der Evangelisten. Als flügellose Engelsfigur konzipiert, trägt der Schaft ein herzförmiges, von einem Strahlenkranz umfasstes, mit Steinen geziertes und von einer Bügelkrone überhöhtes Ostensorium, das Hostiengehäuse. Ebenfalls in der Mittelachse ist unterhalb des Ostensoriums die Darstellung des Pelikans, der sich die Brust aufpickt, um seine Jungen mit seinem eigenen Blut zu füttern, angeordnet – ein Symbol und Sinnbild für den Opfertod Christi und dessen Auferstehung. Die reiche Zier des doppelten Strahlenkranzes zeigt durchbrochen gearbeitetes Rankenwerk, in das zwölf Putten mit verschiedenen Leidenswerkzeugen und liturgischen Geräten sowie sechs von Rubinen und feinen Blütenranken gerahmte Emailmedaillons mit Szenen der Passion Christi geschraubt sind. Der Strahlenkranz wird von der Büstenfigur Gottvaters und der Heiliggeisttaube bekrönt sowie von einem Kreuz mit Steinbesatz überhöht.
Das ikonographische Programm des Figuren- und Bilderschmucks steht der Funktion der Monstranz entsprechend ganz im Zeichen der Passion, des Opfertodes und der Auferstehung Christi.

Die für ihre Zeit in jeder Hinsicht charakteristische Hostienmonstranz bringt im durchkomponierten Zusammenspiel und in der differenzierten Bearbeitung kostbarster Materialien, symbolisch zu deutender Formen und Farben sowie dem ikonographischen Bildprogramm ihre Bedeutung als liturgisches Schaugefäss für die feierliche Ausstellung der heiligen Hostie in der katholischen Eucharistie wirkungsvoll zum Ausdruck. Die Monstranz ist effektvoller Blickpunkt, Zentrum und Höhepunkt der liturgischen Handlung. Das höchst qualitätsvolle Werk zeugt ebenso von der liturgischen Praxis in der Zeit der katholischen Reform, vom Stiftungswillen der Klosterfrauen und den ihr Zugewandten wie auch von der Meisterschaft des Goldschmieden Johann Heinrich Büelers. Im noch wenig erforschten Leben und Werk Büelers ist sie eine von drei heute noch erhaltenen Hostienmonstranzen.6

Die hier präsentierte Strahlenmonstranz ist nur eine von zahlreichen Kostbarkeiten aus dem Klosterschatz der Solothurner Visitandinnengemeinschaft.
Als Teil dieser seit der Niederlassung der Schwestern in Solothurn 1645 gewachsenen Sammlung verweist die Monstranz auf die Funktion von Klöstern als wertvolle Objektarchive. Diese materiellen Archive stellen für Kunsthistorikerinnen und Historiker veritable Schatzkammern dar, bieten sie doch Quellenmaterial für die Beantwortung einer Vielzahl von Forschungsfragen. Indem diese Objektarchive durch ihre Schätze die weite Welt auf kleinstem Raum vereinen, lassen sie (Kunst-)Historiker:innen an der Einbindung von klösterlichen Gemeinschaften in transregionalen Räumen teilhaben.  

Gleichzeitig kann die Arbeit in und mit solchen Objektarchiven (Kunst-)Historiker:innen vor Herausforderungen stellen. So ist erstens die Zugänglichkeit der Objekte nicht immer gegeben. Auch wenn viele liturgische Stiftungen heute Teil öffentlicher Museumssammlungen sind, befinden sich zahlreiche Objekte noch in den Klostergemeinschaften selbst. Unzählige Kirchenschätze mussten zudem aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen, Diebstähle oder Klosteraufhebungen in den letzten 250 Jahren zum Teil umfassende und nicht immer klar dokumentierte Abgänge verzeichnen. Die Ein- und Zuordnung der Objekte erfordert des Weiteren viel Fachwissen. Zwar verweisen Quellen aus klösterlichen und kirchlichen Archiven häufig auf Stiftungen und Vergabungen in ihre Institutionen, aufgrund der oben beschriebenen Abgänge ist es jedoch nicht immer einfach, die teilweise sehr kurz gehaltenen Einträge in den Quellen mit Objekten in den Sammlungen zu verbinden. Schliesslich verfügen Objekte in Klosterschätzen häufig über eine lange Nutzungsdauer von mehreren Jahrhunderten und wurden im Laufe der Zeit beschädigt, repariert oder anderweitig künstlerisch verändert, was die Zuordnung ebenfalls erschweren kann. Trotz dieser Hindernisse und Herausforderungen sind gerade auch Historiker:innen geraten, materielle Zeugnisse liturgischer Praktiken in ihre Recherchen einzubeziehen. 

Solothurn besitzt einen qualitativ hochstehenden, stadtbildprägenden Bestand von Kirchen, Klöstern und Kapellen, zu denen eindrucksvolle Ausstattungen mit Altären, Gemälden, Skulpturen, Glocken, Orgeln, Glasmalereien, liturgischen Gerätschaften, Paramenten und Möbeln gehören. Die solothurnische Sakraltopografie hat ihren Ursprung im frühen Mittelalter, geht in ihrer heutigen Gestalt jedoch hauptsächlich auf die bauintensivste Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts sowie des ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1965 zurück. Mit ihren architektur- und kunsthistorisch qualitätsvollen Bauten und Ausstattungen ist die Sakraltopografie ein gewichtiger Teil des weit über die Stadtgrenzen ausstrahlenden kulturellen Erbes Solothurns. Sie umspannt auf engstem Raum praktisch alle grossen Epochen der Baukunst vom Mittelalter bis zur Nachkriegsmoderne und zeugt von einem vielschichtigen Kulturtransfer aus deutschen, französischen und italienischen Architektur- und Kunstlandschaften. 

Die (kunst-)historische Forschung beschreibt Sakrallandschaften7 als Räume, die nicht nur grössere Sakralbauten wie stattliche Pfarrkirchen und prunkvolle Kapellen, sondern auch «Kleindenkmäler» wie etwa Wegkreuze, Bildstöcke, nicht begehbare Miniaturkapellen, Statuennischen an Hauswänden und Malereien an Fassaden umfasst. Letztere seien nach Peter Hersche häufig als Folge freiwilliger Stiftungen auf Initiative «von unten» entstanden und deshalb von Kirchenoberen nicht selten kritisch beäugt worden.8 Mit dem spatial turn und einer intensivierten Diskussion von Raumkonzepten einher ging die Beschreibung von Sakrallandschaften als «sacred space[s]».9 Dabei werden nicht nur Baudenkmäler, sondern auch der Raum zwischen baulichen Objekten untersucht und der Blick auf Praktiken und Handlungen geworfen, die sich um, an und mit Mobilien und Immobilien vollziehen.10 Dazu gehört nicht nur der Blick auf die visuelle Dimension des Sakralraums, sondern auch deren akustische Komponente sowie der Einbezug des Faktors Geschlecht, im Sinne eines «gendered sacred space».11

Der Blick auf den sakralen Raum und die darin vollzogenen Praktiken macht auch Akteur:innen sichtbar – neben Vertreter:innen der Kirche wie Gemeindepfarrern oder Klosterfrauen sind hier etwa Mitglieder der städtischen und ländlichen Eliten zu nennen. Als emsige Sitfter:innen liturgischer Objekte an kirchliche Institutionen, insbesondere auch an Frauenklöster, haben die Eliten solche Sakrallandschaften massgeblich mitgestaltet. Wie die eingangs präsentierte Strahlenmonstranz zeigt, haben zahlreiche dieser häufig sehr prunkvollen liturgischen Kunstschätze bis heute überlebt und vermitteln uns einen Eindruck der Dimensionen frühneuzeitlicher Stiftungspraktiken.

Wollen wir heute verstehen, wie Sakrallandschaften gelebt wurden, wie Menschen mit diesen sakralen Räumen interagierten, wie Klostergemeinschaften und andere religiöse Institutionen mit der Stadtgesellschaft verbunden waren, und welche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen diese Verbindungen hatten, ist es unerlässlich, sich den Klöstern und kirchlichen Institutionen als Objektarchiven zuzuwenden. Als häufig integraler Bestandteil von religiösen Praktiken wirken die in diesen Archiven gelagerten Kunstschätze über sich hinaus – neben einer religiösen Bedeutung als Medien des Heils weisen sie eine soziale Dimension auf, indem sie Familien (insbesondere der städtischen und ländlichen Eliten) eine Einschreibung in die Sakrallandschaft ermöglichten. Sie sind zudem wertvolle Zeugnisse eines historischen Handwerks und Teil einer Werkbiografie. Vielfach noch gänzlich unerforscht, verfügen sowohl die einzelnen Objekte als auch die kirchlichen Sammlungen über ein enormes Forschungspotenzial. 


  1. SO [Solothurn], KlA V [Klosterarchiv Visitation], Aa6, Rechnungsbuch 1645–1823. ↩︎
  2. SO, KlA V, A2, Fondation et Annales 9,2, 1870, 21. ↩︎
  3. Johanna Strübin, Christine Zürcher, Die Stadt Solothurn III. Sakralbauten (Die Kunstdenkmäler des Kantons Solothurn, IV), Bern 2017, 303. Die Aussage, wonach die Klostervorsteherin und ihre Eltern als alleinige Stifter der Monstranz verstanden werden (316), ist entsprechend zu korrigieren. ↩︎
  4. Ebd., 49, 262f., 267, 312, 314. ↩︎
  5. Für Solothurner Goldschmiedezeichen siehe: Gottlieb Loertscher, Die Bezirke Thal, Thierstein und Dorneck (Die Kunstdenkmäler des Kantons Solothurn, III), Bern 1957, 442. Zu Büeler (Bieler): Hugo Dietschi, Solothurner Künstlerlexikon, Typoskript KDSO, 1940; Erich Meyer, «Hans Jakob Büeler und seine zwei Regimenter im Türkenkrieg 1652–1664», in Jahrbuch für Solothurnische Geschichte 70 (1997), 51f., 55; Erich Meyer, «Büeler (SO)», Historisches Lexikon der Schweiz Online, 31.08.2004, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/042962/2004-08-31/ (25.07.2024). ↩︎
  6. Strübin, Zürcher (wie Anm. 3), 399, Abb. 447; Josef Grünenfelder, Das ehemalige äussere Amt (Die Kunstdenkmäler des Kantons Zug. Neue Ausgabe, I), Bern 1999, 332. ↩︎
  7. Der Begriff «Sakrallandschaft» wurde bereits 1937 von Georg Schreiber verwendet: Georg Schreiber, Die Sakrallandschaft des Abendlandes mit besonderer Berücksichtigung von Pyrenäen, Rhein und Donau, Düsseldorf 1937.  ↩︎
  8. Peter Hersche, Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg im Br. 2006, 557f. ↩︎
  9. Will Coster, Andrew Spicer, «Introduction. The Dimensions of Sacred Space in Reformation Europe», in Will Coster (Hg.), Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, 1–16, hier 4. ↩︎
  10. Vgl. etwa Gerrit Jasper Schenk, «Religion und Politik. Die westeuropäische Stadt als ‹sakraler Handlungsraum› in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Eine Skizze», in: Elisabeth Gruber et al. (Hg.), Städte im lateinischen Westen und im griechischen Osten zwischen Spätantike und Früher Neuzeit. Topographie – Recht – Religion (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 66), Wien 2016, 273–299, hier 282. ↩︎
  11. Coster, Spicer (wie Anm. 9), 10; Schenk (wie Anm. 10), 273f. ↩︎


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