Interview mit den Initiatorinnen von #metoohistory

Die Druckversion ist erschienen in: traverse 2/2024

Matthias Ruoss und Isabelle Schürch haben für traverse mit Prof. Dr. Julia Herzberg (Leipzig), Dr. Marie Huber (Marburg), Kathrin Meißner (Berlin), Janine Funke (Potsdam) und Dr. Claudia Roesch (Konstanz) gesprochen. Sie haben gemeinsam die Initiative #metoohistory gestartet, die Machtmissbrauch und sexuelle Belästigungen an Universitäten bekämpft.


Janine Funke: Wir haben uns als Gruppe im August 2023 formiert. Die Initiative steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Fall an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Fall wurde in verschiedenen Zeitungen thematisiert, auch unser Mitglied Claudia Roesch hat ein Interview im Tagesspiegel gegeben.1

Anlass für das Interview war ein Screenshot auf «X» (ehemals Twitter). Dieser zeigte das offizielle Profil eines langjährigen Mitarbeiters und Dozenten mit dem Vermerk, dass «Studentinnen» nur in Begleitung der Frauenbeauftragten in dessen Sprechstunde gehen sollten. Daraufhin haben sich zahlreiche Betroffene geäussert, die übergriffiges Verhalten erfahren hatten, obwohl der Name des Dozenten nicht öffentlich genannt worden war. Die mediale Öffentlichkeit und die zahlreichen Äusserungen auf X haben so zu einem Momentum geführt, das die Aufmerksamkeit für sexuelle Übergriffe im universitären Kontext gesteigert hat. Das war Mitte Juli 2023. Uns allen war unabhängig voneinander klar, dass die nun geschaffene Aufmerksamkeit genutzt werden muss, zumal der Fall weit davon entfernt war, ein Einzelfall zu sein. Am Ende war es Marie Huber, die die Initiative ergriffen und einen Aufruf gestartet hat. So haben wir uns zusammengefunden und angefangen, uns auszutauschen, uns zu vernetzen und uns zu überlegen, wie wir aktiv werden können. Zuerst haben wir einen X-Account gegründet und den Hashtag #metoohistory ins Leben gerufen. Das war der Start der Initiative.

Janine Funke: Also zuerst zu den Vorbehalten. Uns war von Anfang an klar, dass wir darauf achten müssen, dass wir uns rechtlich auf der sicheren Seite befinden. Die Frage war: Was können wir tun, ohne uns selbst zu gefährden? Einige von uns haben sich in der Öffentlichkeit geäussert, also auch mit Klarnamen und universitärer Affiliation. Das machte uns natürlich persönlich angreifbar. Aber wir sind überzeugt, dass eine mediale Öffentlichkeit die Voraussetzung ist, dass auch Betroffene den Mut finden, sich zu äussern. 

Janine Funke: Das betrifft uns alle anders, weil wir uns tatsächlich alle in unterschiedlichen akademischen Positionen befinden. Ich bin Wissenschaftsjournalistin. Das heisst, ich bin nicht mehr angebunden an eine Hochschule und ich bin nicht mehr abhängig von den dortigen Machtstrukturen. Im Hinterkopf bleibt aber schon die Frage, ob sich mein Engagement für #metoohistory auf meine Auftragslage auswirken könnte. Uns ist es deshalb wichtig, uns abzusprechen und immer wieder neu zu entscheiden, wie wir auftreten.

Marie Huber: Ich hingegen bin als Postdoc mit einer befristeten Stelle noch voll innerhalb des Wissenschaftssystems. Es ist zwar nicht so, dass aus dem wissenschaftlichen System jemand an mich herangetreten wäre und gesagt hätte: «Du, pass mal lieber auf!». Dennoch gab es abweisende Reaktionen aus dem Kolleg:innenkreis. Einige, von denen ich wusste, dass sie betroffen sind, haben sehr entschieden gesagt, dass sie sich auf keinen Fall äussern wollen. Die Begründungen waren unterschiedlich. Manche haben als Grund tatsächlich Angst angeführt und klar gesagt, dass sie sich nicht trauen würden, mit ihren persönlichen Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Andere wiederum haben gesagt, dass sie (endlich) ihre Ruhe haben möchten. Es hat mich schon erstaunt, wer still geblieben ist und wer nicht. Zu denken sollte uns jedoch geben, dass einige auch Zweifel äusserten an dem, was sie selbst gesehen, gehört oder erlebt haben. Das zeigt die grosse Unsicherheit, der Betroffene ausgesetzt sind. 

Claudia Roesch: Sie sprechen mit den Hierarchien und Abhängigkeiten wichtige Probleme an, die Machtmissbrauch – sexualisierten Machtmissbrauch, aber auch Fälle von Mobbing und Ausgrenzung – begünstigen. Die Tatsache, dass der Vorgesetzte gleichzeitig der Betreuer ist, oder dass die Person, die die Noten für Abschlussarbeiten vergibt, gleichzeitig die Person ist, die auch entscheidet, ob ein Arbeitsvertrag verlängert wird, ist ein Problem. Wir haben es mit einem System zu tun, in dem es Positionen gibt, die mit sehr viel Macht ausgestattet sind. Im Fall des langjährigen Dozenten an der Humboldt-Universität ging es um sexuelle Belästigung. Seit den ersten Vorfällen sind gut 25 Jahre vergangen. Das heisst, das Problem war seit Langem bekannt. Sowohl vom Fachbereich als auch von der Universität wurde aber nur wenig unternommen. Diese Passivität ist Teil des Problems. Nur zu oft zeigt sich, dass – wie in diesem Fall – der Täter zwar nicht namentlich genannt wird, aber im Grunde jede:r genau weiss, um wen es geht. Personen haben einen bestimmten Ruf. Ich zum Beispiel habe im Zuge der #metoohistory-Initiative auch die Warnung erhalten, ich solle bei einer anderen beschuldigten Person vorsichtig sein, die Person nicht vorverurteilen, man könnte der Karriere der beschuldigten Person schaden usw. Das ist dann eher Täterschutz als Opferschutz. Die Gleichstellungsbeauftragten an universitären Fachbereichen sind oft selbst Mitarbeiter:innen in den betroffenen Instituten und übernehmen die Aufgabe im Zuge der akademischen Selbstverwaltung. Sie befinden sich teilweise in den gleichen Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen wie die Betroffenen. Ähnliches gilt für Kolleg:innen an ausseruniversitären Forschungsinstitutionen – auch dort gibt es teilweise die gleichen Machtstrukturen und auch dort stehen Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Vorgesetzten.

Claudia Roesch: Das ist eine Frage, die wir uns natürlich auch immer wieder stellen. Gerade die Geschichtswissenschaften sind ein Fach, das sich sehr stark mit Macht und Gewaltausübung und mit Formen von Marginalisierung beschäftigt. Selbstverständlich will ich nicht behaupten, dass Historiker:innen blind sind für die Strukturen im eigenen Feld. Die intellektuellen Voraussetzungen, diese zu erkennen, wären doch eigentlich gegeben. Dies war mitunter einer der Gründe, warum es uns wichtig war, #metoohistory auf dem Deutschen Historikertag 2023 in Leipzig einzubringen (mehr dazu unten, Anmerkung der Redaktion).

Kathrin Meißner: Ich glaube, wir müssen die Frage anders stellen und Machtmissbrauch als strukturelles Problem betrachten, und zwar generell in den Geschichtswissenschaften. Genau das zeigen die Fälle, die publik geworden sind und jetzt diskutiert werden. Es betrifft zwar die Geschichtswissenschaften, aber eben auch andere Disziplinen und das universitäre System im Allgemeinen. Für die Geschichtswissenschaften muss man auf jeden Fall zu bedenken geben, dass Habilitation, monografische Publikationskultur und verbreitete Individualforschung sicherlich nicht förderlich sind, da es professorale Lehrstuhlstrukturen und Karriereausrichtung zementiert. Ein weiterer Aspekt, den es aber auch in anderen Fachkulturen gibt, sind die Teilfächer innerhalb der Geschichtswissenschaften. Diese erlauben es einem begrenzten Personenkreis, Hierarchien aufzubauen und Macht anzuhäufen. Insgesamt kommt also sehr viel zusammen, was die Wahrscheinlichkeit von (sexualisiertem) Machtmissbrauch erhöht. Deshalb ist es uns wichtig, eine grössere Transparenz und Sichtbarkeit für strukturelle Probleme zu schaffen. 

Marie Huber: Ich möchte hier die Frage nochmals aufwerfen, von der ich mir wünschen würde, dass sie mehr im Vordergrund stünde: Warum melden sich gerade Historiker:innen, die sich eigentlich aus fachlichem Interesse berufen fühlen sollten, so wenig zu Wort, wenn es um Machtmissbrauch in der eigenen Disziplin geht? Dass wir uns als wissenschaftliche Disziplin mit strukturellen Problemen beschäftigen, ist das eine. Etwas anderes ist es, nach dem Rahmen unserer Fachkulturen zu fragen: Welche Gepflogenheiten haben wir? Wie arbeiten wir eigentlich? Wie gestalten sich bei uns Abschlussfeiern, Kongresse und so weiter? Wo entstehen Räume für Machtmissbrauch? Solche Fragen müssten im Hinblick auf Prävention genauer angegangen werden.

Julia Herzberg: Diese Schere haben wir auch in anderen Fächern. Ich glaube nicht, dass Geschichtswissenschaften besonders patriarchal organisiert sind, aber sie sind es. Das liegt daran, dass die Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft prekär sind und es sehr lange dauert, bis man, wenn überhaupt, auf eine unbefristete Stelle kommt. Das können sich Historikerinnen mit Familien- und Care-Verpflichtungen kaum leisten. Dass diese Arbeiten mehrheitlich immer noch von Frauen geleistet werden, ist belegt. Das heisst wiederum auch, dass Frauen häufiger aus der Wissenschaft aussteigen als Männer. 

Kathrin Meißner: Neben den prekären Arbeitsbedingungen möchte ich darauf hinweisen, dass die Publikationskultur den Gender Gap vergrössert. Die Art und Weise, wie in der Geschichte publiziert wird – nämlich in Büchern oder Sammelbänden, meist in Einzelautor:innenschaft und stark anhängig von Verlagshäusern –, verlangt sowohl ein hohes Mass an Verfügbarkeit und zeitlichen Ressourcen als auch an Netzwerken.

Marie Huber: Auch ich erlebe die Geschichte als ein Fach, in dem vorausgesetzt wird, dass man zeitlich verfügbar ist, was der Lebensrealität von Frauen widerspricht. Bücher schreiben ist das eine. Das andere ist die Mobilität. Damit meine ich nicht nur die Konferenzen, sondern auch Auslandsaufenthalte, die ständigen Stellenwechsel vor und nach dem Doktorat. Wir wechseln zwei-, drei-, viermal die Stelle, was in der Regel mit einem Umzug verbunden ist. Dazu kommen Archiv- und Forschungsaufenthalte. Wir arbeiten in einem disziplinären Umfeld, das die Lebensrealitäten von Frauen weitgehend ausblendet, und das in einem grösseren Mass, als ich das in anderen Fächern wahrnehme. Das muss sich ändern.

Marie Huber: Wir wollen mit unserer Initiative eine Plattform schaffen. Nur so ist es möglich, dass sich Akteure aus ganz unterschiedlichen Karrierestufen (Studierende, Doktorierende, Professor:innen, Verbände und Institutionen) vernetzen können und miteinander ins Gespräch kommen. Das ist ein Kernanliegen unserer Initiative. Wir möchten aber auch festhalten, dass es eine Initiative ist, die aus einer akuten Situation mit hoher Dringlichkeit entstanden ist. Erst jetzt kommen wir in die Konstitutionsphase. Im Gespräch ist ja bereits deutlich geworden, dass unsere Disziplin sehr heterogen ist. Das trifft auch auf die Vernetzungen zu. Die Zusammenführung unterschiedlicher Netzwerke ist ein grosser Erfolg unserer Initiative. Gleichzeitig haben wir auch gemerkt, dass es wichtig ist, Wissen über Initiativen aus anderen Disziplinen weiterzugeben. Wir schaffen also eine dringend notwendige Schnittstelle, die bislang in der Form gefehlt hat. Und schliesslich ist uns die Sichtbarkeit des Themas sehr wichtig. Über sexualisierten Missbrauch soll und muss gesprochen werden. Wir wollen aber nicht nur, dass mehr geredet wird, sondern dass transparenter, vertrauensvoller und respektvoller über das Thema gesprochen wird. Wir wollen eine neue Kommunikationskultur etablieren. Und nicht zuletzt wollen wir Entscheidungsträger:innen zum Handeln anregen und aufrütteln.

Marie Huber: Diese Frage nach der Unterscheidung ist durchaus berechtigt. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass sich diese Trennung nicht so scharf aufrechterhalten lässt. Ich denke, dass es wichtige Gründe gibt, warum verschiedene Arten des Machtmissbrauchs unterschieden werden. Das ist aber nicht unsere Aufgabe. Mit unserer Initiative geht es uns darum, eine Öffentlichkeit herzustellen und Ansprechpartnerin für betroffene Menschen zu sein. Menschen, die sich von #metoohistory angesprochen fühlen, würde ich nicht vorschreiben wollen, in welchen Fällen sie sich melden sollen. Denn es zeigt sich oft, dass sich Formen von Übergriffen und Machtmissbrauch überlappen oder auf eine Art und Weise zusammenhängen, die sich erst erschliesst, wenn man die Fälle genauer kennt und versteht. 

Kathrin Meißner: Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass wir es oft mit verschiedenen Eskalationsstufen zu tun haben. Sexualisierte Gewalt ist die Form, die am meisten als übergriffiges und nicht mehr ignorierbares Fehlverhalten wahrgenommen wird. Das Bewusstsein für andere Bereiche von Machtmissbrauch ist hingegen weniger ausgeprägt. Selbst bei Fällen von sexualisierter Gewalt merkt man, dass es zuerst zu eklatanten Überschreitungen kommen muss, damit etwas passiert. Grundsätzlich fehlt es an fachkultureller wie gesellschaftlicher Sensibilisierung, besonders für Dimensionen und Praktiken von Machtmissbrauch.

Julia Herzberg: Machtmissbrauch wird in den Diskussionen häufig auf sexualisierte Gewalt und Übergriffe reduziert. Das ist aber leider auch eine Möglichkeit, um Meldungen von Machtmissbrauch an Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte auszulagern. Damit wird es zu einem «Frauenthema». In dieser Logik wird aber Machtmissbrauch marginalisiert, was ich als sehr problematisch sehe. Deshalb ist es uns wichtig, von einem komplexen Begriff von Machtmissbrauch auszugehen.

Kathrin Meißner: In dieser Frage möchten wir uns noch nicht definitiv festlegen. Wir sind, das möchten wir noch einmal festhalten, erst in der Konstituierungsphase. Klar ist, dass es sich auf jeden Fall um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. Ich persönlich bin hochschulpolitisch aktiv und es ist mir wichtig, dass Leute in Führungspositionen, sprich Hochschulleitungen und Lehrstuhlinhaber:innen, eine Verantwortung haben, aus der sich eine Fürsorgepflicht ableiten lässt. Es ist daher zu leicht, mit dem Finger auf bestimmte Einzelpersonen zu zeigen. Man muss immer auch die systemischen Probleme im Blick haben und die Gesamtstruktur adressieren.

Marie Huber: Wir sehen uns vor allen Dingen als Impulsgeberinnen. Mich hat aber am Anfang erstaunt, wie viel Forschung und Wissen zu Machtmissbrauch in der Wissenschaft es eigentlich schon gibt. In Deutschland gibt es das «Netzwerk Machtmissbrauch in der Wissenschaft».2

Auch die Bundeskonferenz der Frauenbeauftragten weist schon lange darauf hin, dass die Problematik bei den Frauenbeauftragten nicht gut aufgehoben ist, weil sie keine Weisungskompetenz haben.3 Natürlich sind es wichtige Stellen, denen man sich anvertrauen kann und die individuell hilfreiche Beratung anbieten. Die Frauenbeauftragte kann aber nicht personalrechtlich Einfluss nehmen. Aus Gesprächen mit Professor:innen habe ich den Eindruck gewonnen, dass ihnen gar nicht klar ist, dass eine Frauenbeauftragte nicht veranlassen kann, dass jemand entlassen oder ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird. Das kann nur der:die Dienstvorgesetzte, also etwa eine geschäftsführende Direktorin, eine Dekanin, eine Unipräsidentin oder – wie im Land Berlin – eine Wissenschaftssenatorin. Kompetenzfragen bei Entscheidungs- und Personalverantwortung sind oft nicht geklärt bzw. unbekannt. Wann und in welchen Fällen gibt es eine Melde- oder Reaktionspflicht? Wie ist das Vorgehen? Wie sollte man auf Flurgerüchte reagieren? Sobald es Hinweise auf sexualisierten Missbrauch und Übergriffe gibt, muss eigentlich immer ein Vorgang zur Überprüfung eingeleitet werden. Da gibt es klare Regeln. Wenn Leute an uns herantreten und fragen, wo sie sich informieren können, dann verweisen wir sie an die entsprechenden Websites, Links und Anlaufstellen. Unser Impuls muss sein: Bestehende Strukturen müssen besser genutzt werden.

Julia Herzberg: Wir müssen wegkommen von Coping-Strategien und das Problem systemisch begreifen und strukturell angehen. Unserer Ansicht nach müssen wir auf drei Ebenen Massnahmen ergreifen. Das ist erstens die asymmetrische Machtverteilung im Hochschulkontext, die Machtmissbrauch begünstigt. Da spielen auch die engen Befristungsregeln und die Mehrfachabhängigkeiten in Anstellungs- und Betreuungsverhältnissen eine zentrale Rolle. Das bedeutet auch, dass die Abhängigkeit von Empfehlungsschreiben und Gutachten reduziert werden muss. So sollte es etwa möglich werden, bei Anträgen Personen von Gutachten auszuschliessen. Zweitens sollten Sanktionen als Schutzmassnahme durchgesetzt werden. Machtmissbrauch widerspricht den Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis und ist deshalb zu ahnden. Es ist bekannt, dass Selbstverpflichtungserklärungen bisher wenig zur Prävention von Machtmissbrauch beigetragen haben. Wir müssen also die Sanktionierungspraxis stärken. Das bedeutet aber auch, dass wir unabhängige Stellen brauchen, die Betroffene beraten und die Verfahren unabhängig führen können. Dafür müssen Befugnisse und Ressourcen bereitgestellt werden. Konkret ist unser Vorschlag, diese Anlaufstellen innerhalb von Universitäten auf einer höheren institutionellen Ebenen anzuordnen. Häufig melden Betroffene Vorfälle nicht, weil sie die handlungsfähigen Ansprechpersonen und Stellen nicht kennen. Und drittens schliesslich möchten wir Personen, die Machtmissbrauch beobachten, auffordern, solidarisch zu agieren. Wir alle haben eine Pflicht einzugreifen und uns auf die Seite der Betroffenen zu stellen. Das ist für Personen, die selbst abhängig sind, gar nicht so einfach. Hierarchisch strukturierte Abhängigkeiten erzeugen ein Klima der Angst, das Schweigen und Wegschauen fördert. Für Personen, die nicht in irgendeiner persönlichen Abhängigkeit stehen, also entfristete Professor:innen, Institutsleiter:innen etc., gilt es, ihre Verantwortung und Fürsorgepflicht wahrzunehmen. Sie sollten unserer Ansicht nach Täter:innen zur Rede stellen und selbst Veränderungen an ihren Institutionen einfordern. Eine unserer konkreten Forderungen ist: Keine Kooperationen mit Täter:innen. Und schliesslich müssen sich auch die Fachgesellschaften Gedanken machen, wie sie ihre Verantwortung wahrnehmen. Sie sollten dem Thema mehr Aufmerksamkeit schenken und es von sich aus thematisieren. Nach wie vor müssen die Betroffenen vor allem selbst handeln. Das darf nicht so bleiben.

Julia Herzberg: Wir dürfen uns nicht an den Schweigespiralen beteiligen. Eine Person, die Machtmissbrauch erlebt, ist oft sehr schnell sehr einsam. Deshalb ist es wichtig, ins Gespräch mit Betroffenen zu kommen und ihnen zu versichern, dass das, was sie erleben, auch von anderen als falsch und missbräuchlich wahrgenommen wird. Wir müssen über Vorfälle sprechen, wir müssen sie benennen und wir müssen vor allem auch für die Betroffenen einstehen, die selbst nicht handeln können.

Kathrin Meißner: Ich schliesse mich dem Gesagten an. Da ich selber aus der Perspektive einer Promovierenden auf Machtmissbrauch schaue, möchte ich ergänzen, dass es gerade für junge Wissenschaftler:innen, aber auch für Studierende, entscheidend ist, dass etablierte Wissenschaftler:innen klarstellen, dass (sexualisierter) Machtmissbrauch nicht geduldet wird, dass es dafür keinen Platz gibt. Je weniger man ein Institut kennt, desto vulnerabler ist man. Gerade bei internationalen Austauschstudierenden, Gastwissenschaftler:innen oder Wissenschaftler:innen, die nur assoziiert sind, besteht die Gefahr, dass sie sich weder an Bekannte wenden können noch wissen, welche Anlaufstellen existieren. Solche Mängel können beispielsweise durch strukturierte Mentoring-Formate aufgefangen werden. Letztlich sollten die Informationen aber unterschwellig in jeder Lehrveranstaltung kommuniziert werden. Grundlegend braucht es die räumlich wie diskursiv sichtbare Auseinandersetzung mit strukturellen Abhängigkeiten, sodass eine aufmerksame, sensibilisierte und solidarische Arbeitskultur entstehen kann, die Machtmissbrauch vorbeugt.

Marie Huber: Wir sehen, dass zurzeit viele Personen aktiv werden wollen. Erwartungsgemäss kommt dieses Bedürfnis besonders aus dem Mittelbau. Ich bin der Meinung, dass Machtmissbrauch aber immer auch Chef:innensache sein muss. Wenn sich jetzt Arbeitsgruppen und lokale Initiativen bilden, dann sollten die Institutsleiter:innen dabei sein. So wird eine klare und wirkungsvolle Botschaft gesendet. Zudem führt der Dialog zwischen Studierenden, Mittelbauangehörigen, Professor:innen und Institutsleiter:innen dazu, dass unterschiedliche Perspektiven mit in den Prozess einfliessen. Nur so kann eine konstruktive, wirkungsvolle und achtsame Fachkultur entstehen. Es kann auch sinnvoll sein, eine:n externe:n Trainer:in einzuladen. Wir führen eine Liste mit Kontakten zu Expert:innen für Missbrauchsprävention.

Marie Huber: Zunächst hatten wir ein sehr schnelles Wachstum in den sozialen Medien. Nachdem wir den X-Account gegründet hatten, bekamen wir innerhalb weniger Tage über 1.000 Follower. Das war überwältigend, hat uns Rückenwind gegeben und uns ermutigt. Es zeigte sich schnell, dass beim Thema «sexualisierter Machtmissbrauch» ein immenses Austauschbedürfnis besteht. Darüber hinaus braucht es einen Ort, an dem die aktuelle Berichterstattung zusammengezogen wird und die Auseinandersetzung verfolgt werden kann. Dabei war es uns wichtig, an eine breitere gesellschaftliche Debatte anzuknüpfen – darum auch der Hashtag #metoohistory. Während in anderen Bereichen wie der Unterhaltungsindustrie die Thematisierung von Machtmissbrauch schon etabliert ist, hinkt sie im universitär-akademischen Umfeld hinterher. Das erstaunt doch sehr. Mit dem öffentlichen Auftreten machten wir uns viele Gedanken über unsere Kommunikationsstrategie. Im Hintergrund haben wir intensiv darüber diskutiert, wie wir einen bestimmten Post schreiben oder wie wir einen bestimmten Tweet absetzen wollen. So gesehen würde ich es als Erfolg verbuchen, dass wir es mit unserer Kommunikation geschafft haben, dass sich so viele Leute angesprochen gefühlt und sich getraut haben, sich zu melden. Zugleich sehe ich uns aber nicht als Konkurrenz zu Frauenbeauftragten, anonymen Meldestellen oder Ombudsstellen. Es braucht ein vielfältiges und breites Angebot, das unterschiedlich hoch- und niedrigschwellig ist, so dass sich Betroffene aussuchen können, was sich für sie passend anfühlt. 

Als grössten Erfolg würde ich aber unsere bereits erwähnte Veranstaltung auf dem Deutschen Historikertag 2023 in Leipzig bezeichnen. Wir haben dafür relativ kurzfristig eine Diskussionsrunde mit den beiden Vorsitzenden des Historiker:innenverbands, Fachleuten und einer Studierendenvertreterin organisiert. Die Veranstaltung wurde ein Publikumserfolg. Der für unsere Hybridveranstaltung reservierte Seminarraum für 40 Personen war innerhalb von wenigen Minuten überfüllt. Wir mussten kurzfristig in einen grossen Vorlesungssaal für mehrere hundert Personen umziehen. Online haben sich ebenfalls nochmals 170 Personen dazugeschaltet. Wenn man bedenkt, dass der Historiker:innenverband ca. 3.000 Mitglieder hat, waren über 10% mit dabei. Auch fachintern ermöglichte es uns dieser Anlass, zusammen mit dem Psychologen Daniel Leising das Thema im Rahmen eines Podcasts für H-Soz-Kult weiter zu vertiefen.4

Kathrin Meißner: Die Veranstaltung auf dem Historikertag hat uns gezeigt, dass sexualisierter Machtmissbrauch ein Thema ist, welches das gesamte Fach betrifft und umtreibt. Sowohl Studierende als auch Promovierende, Postdocs und Professor:innen haben sich an der Veranstaltung beteiligt oder sind im Nachgang auf uns zugekommen. Es zeigte sich aber auch: Vor allem Frauen haben die Veranstaltung besucht. Das liegt daran, dass Wissenschaftlerinnen stärker von sexualisiertem Machtmissbrauch betroffen sind, sich eher mit dem Thema beschäftigen und in ihren «whisper networks» darüber sprechen. Mein Eindruck ist, dass vielen Kollegen die Brisanz des Themas nicht bewusst war. Gerade der Erfahrungsbericht der Studentin auf dem Panel hat diesen Punkt deutlich gemacht.

Julia Herzberg: Mein Eindruck war, dass das Thema vor allem Doktorand:innen, Postdocs und jüngeren Professor:innen am Herzen liegt.

Marie Huber: Ich bin ein eher vorsichtiger Mensch und habe mich von Anfang an nicht als Aktivistin verstanden. Uns allen ist es wichtig, dass wir uns nicht auf einzelne Fälle und Personen einschiessen. Wir wurden im Vorfeld zum Historikertag immer wieder gefragt, ob wir die bislang bekannten konkreten Fälle thematisieren werden. Für uns war klar: Das wäre ziemlich unangemessen. Wir wollen dem Thema Machtmissbrauch eine Öffentlichkeit verschaffen. Dagegen kann man eigentlich nichts haben. In den Medien war die Resonanz auf unsere Veranstaltung am Historikertag jedoch gering. Die anwesenden Reporter:innen befassten sich primär mit den Veranstaltungen zur deutschen Erinnerungskultur oder zum Ukrainekonflikt. Einzig der Deutschlandfunk Kultur interessierte sich, wo ich ein Interview geben konnte.5

Neben anerkennenden Randnotizen gab es jedoch auch einen kleinen Meinungsbeitrag in der FAZ, den man als Verriss unserer Veranstaltung bezeichnen kann. 

Claudia Roesch: Persönlich habe ich keinerlei negative Äusserungen, keinerlei Kritik bekommen. Im Vorfeld gab es jedoch ein paar Warnungen aus meinem beruflichen Umfeld, dass ich vorsichtig sein soll, bestimmte Personen nicht vorverurteilen und mich nicht zu Einzelfällen äussern soll.

Kathrin Meißner: Wir verständigen uns tatsächlich gerade, wie wir weiterarbeiten wollen und können. Wir sind alle berufstätig, das Engagement für #metoohistory ist ehrenamtlich. Wir müssen uns neben den inhaltlichen Schwerpunkten überlegen, wie wir die Arbeiten so erledigen können, dass sie sich weiterhin mit unseren akademischen Verpflichtungen vereinbaren lassen. Zudem stellt sich die Frage, welche Infrastrukturen wir brauchen, um als unabhängige Initiative arbeiten können. Darüber hinaus gibt es eine Reihe offener Fragen. Wie kommunizieren wir das Thema weiter und erreichen ein breiteres Publikum? Wie positionieren wir uns als Initiative, wie als Einzelpersonen? Wie sichern wir uns rechtlich ab? Welche Expertise können wir einbringen, und welche Expertise haben andere? Wie können wir uns weiter vernetzen? 

Marie Huber: Zum Schluss möchte ich noch auf ein konkretes Resultat unserer Initiative hinweisen. Der Historikerverband hat bei der Mitgliederversammlung in Leipzig die Einrichtung eines fachethischen Ausschusses beschlossen, der sich unter anderem mit Fragen des Machtmissbrauchs beschäftigen wird. Das begrüssen wir sehr. Wir bleiben aber eine unabhängige Plattform, die gegen Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt kämpft.


Anmerkung der Redaktion

Hast Du sexualisierte Gewalt erfahren oder bist Du von Machtmissbrauch betroffen? Hier findest Du Anlaufstellen an deiner Hochschule: https://universities-against-harassment.ch/.

Und unter folgendem Link kommst Du direkt auf ein ausseruniversitäres online-Beratungsangebot: https://belaestigt.ch/.


  1. https://www.tagesspiegel.de/wissen/vorwurfe-gegen-dozenten-an-der-hu-berlin-er-fragte-ob-ich-mich-fur-ihn-ausziehen-wurde-10221028.html (21.3.2024). ↩︎
  2. Siehe dazu die Homepage des Netzwerks gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft: https://www.netzwerk-mawi.de (20.3.2024). ↩︎
  3. Siehe dazu das von der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen e.V: (bukof) herausgegebene Positionspapier zu geschlechtergerechter Hochschulpolitik: https://bukof.de (20.3.2024). ↩︎
  4. Machtmissbrauch in der Wissenschaft & metoohistory – Folge 8 des H-Soz-Kult-Podcasts, in: H-Soz-Kult, 01.10.2023, online zugänglich: https://www.hsozkult.de/webnews/id/webnews-139036 (20.3.2024). ↩︎
  5. https://www.deutschlandfunkkultur.de/metoohistory-sexuelle-uebergriffigkeit-in-den-wissenschaften-dlf-kultur-d56fc1c7-100.html (24.3.2024) ↩︎

Patriziat mal anders: Objektarchive und Sakrallandschaften

Ein Beitrag von Michèle Steiner und Christine Zürcher

Am 5. Juni 1702 notierte die Sœur économe, die Wirtschafterin des Solothurner Klosters Visitation, im Rechnungsbuch die Einnahme von 602 Pfund «Resu en charitez de nos soeur, et de quelque personne, pour nostre soleille» sowie die Ausgabe von «doeux cant soixante fran pour nr soleille».1

Weitere Hinweise zu diesem Objekt finden sich in den Annalen derselben Klostergemeinschaft. Dort ist im Nachruf auf die 1711 verstorbene «Sœur Marie Hélène Elisabeth Vallier de St. Aubin» nachzulesen, dass die Schwester «nous fit faire un beau Soleil d’argent doré, enrichi de pierreries et d’ouvrages émaillés qui représentent la Passion de Notre Seigneur. C’est un chef d’oeuvre, estimé des meilleurs connaisseurs et un don précieux provenant de la libéralité de plusieurs personnes charitables, dévouées à notre Communauté».2

Strahlenmonstranz im Kirchenschatz des Klosters Visitation, gestiftet von der Oberin Sr. Marie Hélène Élisabeth Wallier mit Unterstützung zahlreicher Nonnen und deren Eltern.
Vergoldetes Silber, hergestellt von Johann Heinrich Büeler, um 1702.
© Kantonale Denkmalpflege Solothurn, Jürg Stauffer (Langenthal), 2012.

Die hier bezeichnete Strahlenmonstranz entstand im Auftrag der damaligen Klostervorsteherin Sr. Marie Hélène Elisabeth Wallier (1651–1711) und wurde von mehreren Schwestern des Klosters Visitation sowie deren Eltern gemeinschaftlich gestiftet.3

Sie befindet sich noch heute an ihrem ursprünglichen Aufbewahrungs- und Nutzungsort in der inneren Sakristei des Klosters und konnte im Rahmen eines Inventarisierungs- und Publikationsprojekts zu den Sakralbauten der Stadt Solothurn 2010 erstmals erfasst und in einem beschreibenden Verzeichnis dokumentiert werden.4 Während die eingangs zitierten Schriftquellen etwas über Entstehungszeit, Finanzierung und Auftraggeberin aussagen und auf einige der verwendeten Materialien wie vergoldetes Silber, Steinbesatz und Emailarbeiten hinweisen, lässt sich die Autorschaft dagegen einzig mittels der am Objekt selbst eingeprägten, qualitätsbezeugenden Beschau- sowie Meisterzeichen bestimmen. Diese weisen die Monstranz als ein Werk des Solothurner Goldschmieden Johann Heinrich Büeler (1647–1733) aus.5

Die 92 Zentimeter hohe Hostienmonstranz präsentiert sich als überaus reich gestaltetes Werk. Der gestufte, querovale Vierpassfuss über mehrfach profiliertem Standring zeigt getriebenes Rankenwerk, vier Engelsfiguren und geflügelte Engelsköpfe sowie vier von Amethysten gefasste Emailmedaillons mit Darstellung der Evangelisten. Als flügellose Engelsfigur konzipiert, trägt der Schaft ein herzförmiges, von einem Strahlenkranz umfasstes, mit Steinen geziertes und von einer Bügelkrone überhöhtes Ostensorium, das Hostiengehäuse. Ebenfalls in der Mittelachse ist unterhalb des Ostensoriums die Darstellung des Pelikans, der sich die Brust aufpickt, um seine Jungen mit seinem eigenen Blut zu füttern, angeordnet – ein Symbol und Sinnbild für den Opfertod Christi und dessen Auferstehung. Die reiche Zier des doppelten Strahlenkranzes zeigt durchbrochen gearbeitetes Rankenwerk, in das zwölf Putten mit verschiedenen Leidenswerkzeugen und liturgischen Geräten sowie sechs von Rubinen und feinen Blütenranken gerahmte Emailmedaillons mit Szenen der Passion Christi geschraubt sind. Der Strahlenkranz wird von der Büstenfigur Gottvaters und der Heiliggeisttaube bekrönt sowie von einem Kreuz mit Steinbesatz überhöht.
Das ikonographische Programm des Figuren- und Bilderschmucks steht der Funktion der Monstranz entsprechend ganz im Zeichen der Passion, des Opfertodes und der Auferstehung Christi.

Die für ihre Zeit in jeder Hinsicht charakteristische Hostienmonstranz bringt im durchkomponierten Zusammenspiel und in der differenzierten Bearbeitung kostbarster Materialien, symbolisch zu deutender Formen und Farben sowie dem ikonographischen Bildprogramm ihre Bedeutung als liturgisches Schaugefäss für die feierliche Ausstellung der heiligen Hostie in der katholischen Eucharistie wirkungsvoll zum Ausdruck. Die Monstranz ist effektvoller Blickpunkt, Zentrum und Höhepunkt der liturgischen Handlung. Das höchst qualitätsvolle Werk zeugt ebenso von der liturgischen Praxis in der Zeit der katholischen Reform, vom Stiftungswillen der Klosterfrauen und den ihr Zugewandten wie auch von der Meisterschaft des Goldschmieden Johann Heinrich Büelers. Im noch wenig erforschten Leben und Werk Büelers ist sie eine von drei heute noch erhaltenen Hostienmonstranzen.6

Die hier präsentierte Strahlenmonstranz ist nur eine von zahlreichen Kostbarkeiten aus dem Klosterschatz der Solothurner Visitandinnengemeinschaft.
Als Teil dieser seit der Niederlassung der Schwestern in Solothurn 1645 gewachsenen Sammlung verweist die Monstranz auf die Funktion von Klöstern als wertvolle Objektarchive. Diese materiellen Archive stellen für Kunsthistorikerinnen und Historiker veritable Schatzkammern dar, bieten sie doch Quellenmaterial für die Beantwortung einer Vielzahl von Forschungsfragen. Indem diese Objektarchive durch ihre Schätze die weite Welt auf kleinstem Raum vereinen, lassen sie (Kunst-)Historiker:innen an der Einbindung von klösterlichen Gemeinschaften in transregionalen Räumen teilhaben.  

Gleichzeitig kann die Arbeit in und mit solchen Objektarchiven (Kunst-)Historiker:innen vor Herausforderungen stellen. So ist erstens die Zugänglichkeit der Objekte nicht immer gegeben. Auch wenn viele liturgische Stiftungen heute Teil öffentlicher Museumssammlungen sind, befinden sich zahlreiche Objekte noch in den Klostergemeinschaften selbst. Unzählige Kirchenschätze mussten zudem aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen, Diebstähle oder Klosteraufhebungen in den letzten 250 Jahren zum Teil umfassende und nicht immer klar dokumentierte Abgänge verzeichnen. Die Ein- und Zuordnung der Objekte erfordert des Weiteren viel Fachwissen. Zwar verweisen Quellen aus klösterlichen und kirchlichen Archiven häufig auf Stiftungen und Vergabungen in ihre Institutionen, aufgrund der oben beschriebenen Abgänge ist es jedoch nicht immer einfach, die teilweise sehr kurz gehaltenen Einträge in den Quellen mit Objekten in den Sammlungen zu verbinden. Schliesslich verfügen Objekte in Klosterschätzen häufig über eine lange Nutzungsdauer von mehreren Jahrhunderten und wurden im Laufe der Zeit beschädigt, repariert oder anderweitig künstlerisch verändert, was die Zuordnung ebenfalls erschweren kann. Trotz dieser Hindernisse und Herausforderungen sind gerade auch Historiker:innen geraten, materielle Zeugnisse liturgischer Praktiken in ihre Recherchen einzubeziehen. 

Solothurn besitzt einen qualitativ hochstehenden, stadtbildprägenden Bestand von Kirchen, Klöstern und Kapellen, zu denen eindrucksvolle Ausstattungen mit Altären, Gemälden, Skulpturen, Glocken, Orgeln, Glasmalereien, liturgischen Gerätschaften, Paramenten und Möbeln gehören. Die solothurnische Sakraltopografie hat ihren Ursprung im frühen Mittelalter, geht in ihrer heutigen Gestalt jedoch hauptsächlich auf die bauintensivste Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts sowie des ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1965 zurück. Mit ihren architektur- und kunsthistorisch qualitätsvollen Bauten und Ausstattungen ist die Sakraltopografie ein gewichtiger Teil des weit über die Stadtgrenzen ausstrahlenden kulturellen Erbes Solothurns. Sie umspannt auf engstem Raum praktisch alle grossen Epochen der Baukunst vom Mittelalter bis zur Nachkriegsmoderne und zeugt von einem vielschichtigen Kulturtransfer aus deutschen, französischen und italienischen Architektur- und Kunstlandschaften. 

Die (kunst-)historische Forschung beschreibt Sakrallandschaften7 als Räume, die nicht nur grössere Sakralbauten wie stattliche Pfarrkirchen und prunkvolle Kapellen, sondern auch «Kleindenkmäler» wie etwa Wegkreuze, Bildstöcke, nicht begehbare Miniaturkapellen, Statuennischen an Hauswänden und Malereien an Fassaden umfasst. Letztere seien nach Peter Hersche häufig als Folge freiwilliger Stiftungen auf Initiative «von unten» entstanden und deshalb von Kirchenoberen nicht selten kritisch beäugt worden.8 Mit dem spatial turn und einer intensivierten Diskussion von Raumkonzepten einher ging die Beschreibung von Sakrallandschaften als «sacred space[s]».9 Dabei werden nicht nur Baudenkmäler, sondern auch der Raum zwischen baulichen Objekten untersucht und der Blick auf Praktiken und Handlungen geworfen, die sich um, an und mit Mobilien und Immobilien vollziehen.10 Dazu gehört nicht nur der Blick auf die visuelle Dimension des Sakralraums, sondern auch deren akustische Komponente sowie der Einbezug des Faktors Geschlecht, im Sinne eines «gendered sacred space».11

Der Blick auf den sakralen Raum und die darin vollzogenen Praktiken macht auch Akteur:innen sichtbar – neben Vertreter:innen der Kirche wie Gemeindepfarrern oder Klosterfrauen sind hier etwa Mitglieder der städtischen und ländlichen Eliten zu nennen. Als emsige Sitfter:innen liturgischer Objekte an kirchliche Institutionen, insbesondere auch an Frauenklöster, haben die Eliten solche Sakrallandschaften massgeblich mitgestaltet. Wie die eingangs präsentierte Strahlenmonstranz zeigt, haben zahlreiche dieser häufig sehr prunkvollen liturgischen Kunstschätze bis heute überlebt und vermitteln uns einen Eindruck der Dimensionen frühneuzeitlicher Stiftungspraktiken.

Wollen wir heute verstehen, wie Sakrallandschaften gelebt wurden, wie Menschen mit diesen sakralen Räumen interagierten, wie Klostergemeinschaften und andere religiöse Institutionen mit der Stadtgesellschaft verbunden waren, und welche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen diese Verbindungen hatten, ist es unerlässlich, sich den Klöstern und kirchlichen Institutionen als Objektarchiven zuzuwenden. Als häufig integraler Bestandteil von religiösen Praktiken wirken die in diesen Archiven gelagerten Kunstschätze über sich hinaus – neben einer religiösen Bedeutung als Medien des Heils weisen sie eine soziale Dimension auf, indem sie Familien (insbesondere der städtischen und ländlichen Eliten) eine Einschreibung in die Sakrallandschaft ermöglichten. Sie sind zudem wertvolle Zeugnisse eines historischen Handwerks und Teil einer Werkbiografie. Vielfach noch gänzlich unerforscht, verfügen sowohl die einzelnen Objekte als auch die kirchlichen Sammlungen über ein enormes Forschungspotenzial. 


  1. SO [Solothurn], KlA V [Klosterarchiv Visitation], Aa6, Rechnungsbuch 1645–1823. ↩︎
  2. SO, KlA V, A2, Fondation et Annales 9,2, 1870, 21. ↩︎
  3. Johanna Strübin, Christine Zürcher, Die Stadt Solothurn III. Sakralbauten (Die Kunstdenkmäler des Kantons Solothurn, IV), Bern 2017, 303. Die Aussage, wonach die Klostervorsteherin und ihre Eltern als alleinige Stifter der Monstranz verstanden werden (316), ist entsprechend zu korrigieren. ↩︎
  4. Ebd., 49, 262f., 267, 312, 314. ↩︎
  5. Für Solothurner Goldschmiedezeichen siehe: Gottlieb Loertscher, Die Bezirke Thal, Thierstein und Dorneck (Die Kunstdenkmäler des Kantons Solothurn, III), Bern 1957, 442. Zu Büeler (Bieler): Hugo Dietschi, Solothurner Künstlerlexikon, Typoskript KDSO, 1940; Erich Meyer, «Hans Jakob Büeler und seine zwei Regimenter im Türkenkrieg 1652–1664», in Jahrbuch für Solothurnische Geschichte 70 (1997), 51f., 55; Erich Meyer, «Büeler (SO)», Historisches Lexikon der Schweiz Online, 31.08.2004, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/042962/2004-08-31/ (25.07.2024). ↩︎
  6. Strübin, Zürcher (wie Anm. 3), 399, Abb. 447; Josef Grünenfelder, Das ehemalige äussere Amt (Die Kunstdenkmäler des Kantons Zug. Neue Ausgabe, I), Bern 1999, 332. ↩︎
  7. Der Begriff «Sakrallandschaft» wurde bereits 1937 von Georg Schreiber verwendet: Georg Schreiber, Die Sakrallandschaft des Abendlandes mit besonderer Berücksichtigung von Pyrenäen, Rhein und Donau, Düsseldorf 1937.  ↩︎
  8. Peter Hersche, Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg im Br. 2006, 557f. ↩︎
  9. Will Coster, Andrew Spicer, «Introduction. The Dimensions of Sacred Space in Reformation Europe», in Will Coster (Hg.), Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, 1–16, hier 4. ↩︎
  10. Vgl. etwa Gerrit Jasper Schenk, «Religion und Politik. Die westeuropäische Stadt als ‹sakraler Handlungsraum› in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Eine Skizze», in: Elisabeth Gruber et al. (Hg.), Städte im lateinischen Westen und im griechischen Osten zwischen Spätantike und Früher Neuzeit. Topographie – Recht – Religion (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 66), Wien 2016, 273–299, hier 282. ↩︎
  11. Coster, Spicer (wie Anm. 9), 10; Schenk (wie Anm. 10), 273f. ↩︎

Helvécia, Brazil

Das Titelbild des Heftes «Natur» wurde von Denise Bertschi im Rahmen ihres Doktoratsprojekts (EPFL, Laboratoire des Arts et des Sciences) gestaltet, das die komplexen kolonialen Verbindungen zwischen Neuchâtel und «Helvécia» in Bahia, Brasilien, durch das Prisma der visuellen und materiellen Kultur erforscht.

Obwohl Landschaften den Betrachtenden ihre komplexen Geschichten nicht immer offenbaren, tragen sie, so Bertschi, die Geschichten des Bodens und seiner mehrschichtigen Transformationen als Palimpsest von Zeit und Raum in sich. Es sind diese sichtbaren und unsichtbaren Zeichen eines Urbanisierungsprozesses der Natur durch menschlichen Eingriff, welche Bertschi auch anhand künstlerischer Forschungsmethoden befragt.

In dieser Hinsicht zeugt das Gebiet um «Helvécia» im Süden Bahias von der globalen Geschichte des Kolonialismus und den nach wie vor bestehenden Verbindungen zur Schweiz. Die helvetische Plantokratie, hauptsächlich Familien aus der Region Neuchâtel, rodete zu Beginn des 19. Jahrhunderts grosse Flächen der Mata Atlântica und nutzte dabei Zwangsarbeit der lokalen indigenen Bevölkerung. Die Schweizer und Schweizerinnen bewirtschafteten ihre Kaffeeplantagen mit der Arbeitskraft von über 2000 versklavten afrikanischen und afrikanischstämmigen Männern, Frauen und Kindern. Mehr noch, die Schweizer Behörden wurden auch selbst zum kolonialen Akteur, denn eines der ersten Konsulate der Schweiz wurde 1834 in Bahia und 1861 in der Kolonie (Colônia Leopoldina genannt) selbst eingerichtet, um die Interessen der Schweizer Plantagenbesitzer:innen zu schützen und sie bei ihren Kolonialisierungsbemühungen zu unterstützen. 

«Helvécia, Brazil», Denise Bertschi, analoge Fotografie, 2017, (c) Denise Bertschi

Heute hat die Monokultur von Eukalyptusbäumen die früheren Kaffeeplantagen fast vollständig verdrängt. Die Schweizer Plantagen auf Colônia Leopoldina, ein Beispiel von racial capitalism[1] des 19. Jahrhunderts, wurden durch das multinationale Unternehmen Suzano ersetzt, ein brasilianisches Papier- und Zellstoffunternehmen, das schnell wachsende gentechnisch optimierte Eukalyptusbäume kultiviert. Indem dieses Unternehmen, wie auch schon die Kaffeeplantagen des 19. Jahrhunderts, ein lebendiges Ökosystem durch eine «operational landscape»[2] ersetzt, macht es die Natur zur Ware und führt so zu ihrer Ausbeutung. 

Die aufeinanderfolgenden kapitalistischen Praktiken haben das atlantische tropische Ökosystem in der Region um «Helvécia» und die damit verbundene sozioökonomische Ordnung zerstört. Die Quilombo «Helvécia», eine Gemeinschaft von Nachkommen ehemaliger versklavter Personen, ist auch heute noch in dieser Region angesiedelt. Die Frauen, welche die Quilombo-Gemeinschaft stark prägen, bezeichnen ihre Arbeits- und Lebensbedingungen als «neokolonial», ähnlich den Arbeitsbedingungen ihrer Vorfahr:innen, die auf den Schweizer Kaffeeplantagen lebten.[3] Wie diese versuchen sie, sowohl den Schwierigkeiten ihrer Lebensbedingungen als auch der kapitalistischen Überausbeutung der Natur im «plantationocene»[4] zu trotzen.


Empfohlene Zitierweise/Suggested citation

Denise Bertschi, «Helvécia, Brazil», traverse 31/1 (2024), online+, revue-traverse.ch/helvecia-brazil/.


Mehr Infos:

Denise Bertschi, «Gaping Absences. Where is Helvécia?», in Denise Bertschi, Julien Lafontaine, Nitin Bathla (Hg.), Unearthing Traces. Dismantling imperialist entanglements of archives, landscapes, and the built environment, Lausanne 2023, 141–163.
Denise Bertschi, Strata. Mining Silence, Zürich 2020.
www.denisebertschi.ch

Ausstellungen: 
Aargauer Kunsthaus, Denise Bertschi Manor Kunstpreis 2020, Einzelausstellung, 2020.
Landesmuseum Zürich, Im Wald. Eine Kulturgeschichte, 2022.

Demnächst: 
Denise Bertschi, Spatial Convers(i)or, Einzelausstellung, Centre d’Art de Neuchâtel, Sept. 2024.
Landesmuseum Zürich, kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz, Historische Ausstellung mit Bertschis Werken zu Helvécia, Sept. 2024.


[1] Cedric J. Robinson, Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill 2000.

[2] Neil Brenner und Nikos Katsikis, «Operational Landscapes. Hinterlands of the Capitalocene», in Ed Wall (Hg.), The Landscapists. Redefining Landscape Relations, Wiley 2020, 23–31.

[3] Dies geht aus Interviews mit den Initiatorinnen der «Quilombo» von «Helvécia» hervor, welche Denise Bertschi im Februar 2017 führte.

[4] Gregg Mitman, «Reflections on the Plantationocene. A Conversation with Donna Haraway and Anna Tsing», Edge Effects Magazine, 18.6.2019, https://edgeeffects.net/haraway-tsing-plantationocene (17.11.2023).