Wieso die ETH Zürich politisch ist

Claire Louise Blaser, Damian Moosbrugger und Lukas Rathjen (ETH Zürich)

Wir, die Autor*innen dieses Beitrags, haben uns in unserer Rolle als Teil des wissenschaftlichen Mittelbaus intensiv mit den Geschehnissen rund um die Protestaktionen der Gruppe «Students for Palestine Zurich» an der ETH Zürich (ETHZ) im Mai und Juni 2024 befasst. Hier möchten wir einen Überblick darüber geben, was an unserer Hochschule in dieser Zeit passiert ist, die Reaktionen der Schulleitung und von repräsentativen Organen der ETHZ auf die Proteste einordnen, sowie abschliessend eine Kritik an der Idee einer politisch neutralen oder «apolitischen» Hochschule vorbringen.

Am 27. Oktober 2023 veröffentlichte die ETHZ eine kurze Pressemitteilung, in der sie ihre «Solidarität mit Menschen im Nahen Osten» ausdrückte – eine nebulöse Mindestformel, die aus unserer Sicht hinter den Erwartungen zurückfiel, die man von einer Institution haben könnte, an der Spitzenforscher*innen sich über internationale Konflikte ‹kluge Gedanken› machen. In dieser Pressemitteilung werden die zivilen Opfer des Hamas-Angriffs auf Israel explizit erwähnt, während die palästinensischen Opfer hinter der humanistischen Rhetorik verschwinden und allenfalls ‹mitgemeint› sind. So blieb sowohl die öffentliche Kommunikation dieser ‹klugen Gedanken› als auch das Sprechen über Palästinenser*innen an anderen hängen, insbesondere den Studierenden.

Im Gegensatz zu anderen Departementen gab es am Architekturdepartement (D-ARCH) der ETHZ früh eine Bereitschaft, sich als Studierende und Forschende in Anbetracht der Eskalierung des Israel-Palästina-Konflikts im Oktober 2023 mit diesem Thema zu beschäftigen. Aus architekturpolitischer Sicht war dabei insbesondere Israels Siedlungspolitik von Interesse. Im Frühling 2024 wurden daraufhin das D-ARCH sowie einzelne dort arbeitende Personen zur Zielscheibe von Angriffen in schweizerischen Leitmedien, die vor Falschinformationen und gezielten Auslassungen nicht zurückschreckten. Die Departements- und Schulleitungen haben in einem internen und einem externen Interview auf diese Anschuldigungen reagiert, ohne jedoch die angegriffenen Mitarbeitenden ausdrücklich zu verteidigen, wie von den Betroffenen später kritisiert wurde.

Statt einer Entschärfung folgte im April eine weitere Zuspitzung der Lage, nachdem eine von Studierenden des D-ARCH geplante Veranstaltung mit dem Architekten und Chefredakteur des Magazins «The Funambulist» Léopold Lambert zum «Siedlerkolonialismus» in Palästina von der Schulleitung abgesagt wurde, weil dieser sich nicht «glaubhaft und genügend explizit von Gewalt distanziert» hätte. Damit liess sich zwar eine politische Diskussion, von der sich die nun unter einem medialen Mikroskop stehende ETHZ um ihrer ‹Neutralität› willen möglichst abgrenzen wollte, für den Moment unterbrechen. Dafür stand nun ein ganz anderes Problem zur Diskussion, nämlich das Vorgehen der Hochschule selbst: Verhielt sich die ETHZ bei diesem Eingriff gemäss ihren selbst propagierten Werten der Meinungs- und Redefreiheit? War es «Zensur», eine solche Veranstaltung abzusagen?

Knapp einen Monat später, am 7. Mai 2024, kam es an der ETHZ zu etwas, das zumindest wir, die Autor*innen dieses Beitrags – die wir seit teils über 10 Jahren an dieser Hochschule arbeiten und studieren – hier noch nie in dieser Form gesehen haben: Protest. Die Gruppe «Students for Palestine», die vor allem aus Studierenden der ETHZ, der Universität Zürich (UZH) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) besteht, versammelte sich gegen Mittag im Hauptgebäude der ETHZ zu einem friedlichen Sitzprotest. Unter dem Motto «No Tech for Genocide» machten sie zeitgleich mit einem gleichgesinnten Protest an der École Polytechnique Fédérale Lausanne (EPFL) auf Kooperationen zwischen der ETHZ und israelischen Institutionen aufmerksam, die sich mit dem Krieg in Gaza in Verbindung bringen liessen. In einem an das Rektorat adressierten Statement forderten sie mit Verweis auf die Handlungen der ETHZ in Bezug auf Russland und die Ukraine eine Positionierung der Hochschule gegen den Genozid in Gaza, einen akademischen Boykotts Israels und Transparenz über Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen. Innert weniger als zwei Stunden machte die ETHZ von ihrem Hausrecht Gebrauch und liess die Polizei den Protest auflösen. 28 Personen wurden des Gebäudes verwiesen und wegen Hausfriedensbruch verzeigt – keine polizeiliche Notwendigkeit, sondern eine bewusste Entscheidung der Schulleitung.

Die meisten Studierenden, insbesondere solche ohne permanente Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, die in der internationalen Studierendenschaft der ETHZ stark vertreten sind, hatten den Protest aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen bereits vor der Auflösung verlassen. Es befanden sich daher nur noch wenige ETHZ-Studierende unter denjenigen, deren Personalien am Ende von der Polizei aufgenommen wurden. Sich entweder dieser Dynamik nicht bewusst oder sie wissentlich ignorierend, behauptete die Schulleitung in einem anschliessenden Statement etwas, das offensichtlich auf eine Delegitimierung der Proteste und eine Legitimierung ihres harten Vorgehens abzielte – nämlich, dass dieser Protest von aussen herbeigeführt worden sei, von «propalästinensischen, marxistischen Gruppierungen». Den eigenen Studierenden traut man eine politische Haltung anscheinend nicht zu, also mussten es «Externe» gewesen sein, die hier den institutionellen Status Quo störten. Am 31. Mai 2024 protestierten die «Students for Palestine» erneut im Hauptgebäude; wieder kam es zur Räumung; wieder kam es zu Anzeigen. Insgesamt hat die ETHZ 40 Strafanträge wegen Hausfriedensbruch gestellt, 9* davon gegen ETHZ-Angehörige.

Bereits einen Tag nach dem ersten Protest lag die offizielle Erklärung der Schulleitung in Form eines Interviews mit dem Vizepräsidenten für Infrastruktur Ulrich Weidmann vor: «Die ETH Zürich ist keine Plattform für politischen Aktivismus». Es sei nicht die Aufgabe der Hochschule, politisch Position zu beziehen und ein akademischer Boykott sei nicht zu vereinbaren mit dem Prinzip der Wissenschaftsfreiheit. Hinzu komme, dass dieser Protest von anderen Studierenden als «bedrohlich empfunden» werden könne, so Weidmann. Fraglich bleibt, ob Polizeieinsätze, Identitätskontrollen und Verhaftungen auf dem Hochschulgelände als weniger «bedrohlich empfunden» werden und wirklich allen ETHZ-Angehörigen das Gefühl geben, «auf dem Campus willkommen» zu sein. Am Dialog aber wolle man festhalten – versicherte der Vizepräsident und liess einen Protest, der aufgrund seiner Grösse nicht einmal im Namen der Brandschutzordnung ein Problem hätte darstellen können, polizeilich auflösen. Vielleicht hatte die Schulleitung an diesem Tag einfach keine Termine mehr frei für «Dialog»?

Schlussendlich warf dieses öffentliche Statement, in dem sich die Schulleitung für ihre repressiven Handlungen zu rechtfertigen versuchte, mehr Fragen auf als es beantwortete. Entsprechend fielen die Reaktionen bei ETHZ-Mitarbeitenden und Studierenden aus, die nun in grösserer Zahl auf das Recht auf friedlichen Protest und Meinungsfreiheit hinwiesen. Bereits am 8. Mai 2024 wurde eine Petition auf Change.org unter dem Titel «ETH domain staff for the right to protest» geteilt, die mittlerweile fast 1’500 Unterschriften erhalten hat. Auch wenn sich nicht alle Unterschriften auf ETHZ-Angehörige zurückführen lassen, vermittelt die Petition ein Stimmungsbild, das den Erfahrungen entspricht, die wir bei uns am Department für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften (D-GESS) gemacht haben: ein weitreichendes Unbehagen demgegenüber, wie die Hochschule mit Protest umgeht.

Am D-GESS wurden der Protest und die Reaktionen der ETHZ innerhalb kurzer Zeit und in verschiedenen Gremien diskutiert. Die Mittelbauvertretung Association of Scientific Sta (ASST) erwog ein öffentliches Statement, welches das Recht auf Protest verteidigen und das strafrechtliche Vorgehen der ETHZ kritisieren sollte. Um der Sache mehr Gewicht zu verleihen, wandte man sich an AVETH, den Dachverband der Mittelbau-Organisationen an der ETHZ. Dieser lehnte es jedoch ab, an einem solchen Statement mitzuwirken, aus Angst, dass dies seine Beziehungen zur Schulleitung belasten würde. Damit war der ASST auf sich allein gestellt, würde er an seinem Vorhaben festhalten, in einem öffentlichen Statement seine Solidarität mit den Protestierenden ausdrücken zu wollen. Er tat dies schlussendlich nicht. Aus formalen Gründen, wie man uns sagte – aus Angst sich zu exponieren, wie wir vermuten.

Wenn man nicht einmal mehr erwarten kann, dass sich repräsentative Organe für die Grundrechte der von ihnen vertretenen Parteien aussprechen – für Rede- und Meinungsfreiheit, für das Recht auf Protest und gegen den Einsatz von strafrechtlicher Verfolgung eigener Mitglieder als Abschreckungsmittel – dann stellt sich die grundlegende Frage, ob diese Organisationen noch als repräsentative Interessensvertretungen gelten können.

Die Bemühungen um ein öffentliches Statement im Namen einer repräsentativen Organisation, welches merkbaren Druck auf die Schulleitung hätte ausüben können, ihre Position und ihr Vorgehen zu überdenken, blieben also erfolglos. Deshalb beschloss eine Gruppe von ETHZ-Angehörigen, der auch die Autor*innen dieses Beitrags angehören, einen Rahmen zu schaffen, in dem individuelle D-GESS-Angehörige sich mit den Protestierenden – in ihrem Recht auf Protest – solidarisieren und ihrem Unbehagen über das Vorgehen der Schulleitung Ausdruck verleihen können. Mit dieser Absicht starteten wir Ende Juni 2024 einen Aufruf mit dem Titel «A peaceful sit-in should not be disrupted». Innerhalb von drei Tagen unterschrieben 68 Mitarbeitende und Studierende am D-GESS das Statement. In Anbetracht der kurzen Dauer, während der wir das Statement zirkulieren liessen, dem Fakt, dass es keine Möglichkeit gab, anonym zu unterschreiben, und der eher bescheidenen Grösse des D-GESS ist dies eine beträchtliche Zahl an Unterschriften. Enttäuschend fielen hingegen die Reaktion der Dachverbände der Mitarbeitenden (AVETH) und Studierenden (VSETH) aus, die die Stellungnahme entweder ignorierten oder rückmeldeten, sie hätten das Thema bereits abschliessend besprochen. Dass kein Diskussionsbedarf mehr anerkannt wird, überrascht besonders im Fall des VSETH, der in einem am 15. Mai auf Instagram publizierten Statement die Proteste als «diskriminierende» und «dehumanisierende Diskursgestaltung» bezeichnete und damit grosse Bestürzung bei Studierenden hervorgerufen hatte.

Im vollen Wissen, das unsere Solidaritätsbekundung wenig Wirkung auf die Vorgänge an der Hochschule haben würde, sahen wir in ihr mehr als eine leere Geste. Die ETHZ-Angehörigen, die sich im Rahmen der Protestaktionen oder am D-ARCH auf friedliche Weise für ein legitimes Anliegen eingesetzt hatten, fühlten sich vor allem vulnerabel und in dieser Situation von der ETHZ als Institution und Gemeinschaft komplett im Stich gelassen. Ein Statement wie unseres zeigt in erster Linie, dass es in der ETHZ-Community Menschen gibt, die die Grundrechte ihrer Mitstudierenden und Arbeitskolleg*innen für schützenswert und ihre Form der Meinungsäusserung als angemessen erachten.

Die Handlungsunfähigkeit der Mittelbauverbände, die unsolidarische und apolitische Einstellung bei vielen ETHZ-Angehörigen, das Klima der Angst, das jene zurückschrecken lässt, die sich solidarisch zeigen wollen und in weitflächiger Selbstzensur gipfelt – das ist ein Aspekt dieser Geschichte. Der andere betrifft das Doppelspiel der ETHZ, die jede politische Haltung von sich weist, zugleich jedoch fortlaufend politische Entscheidungen fällt. Es ist eine politische Entscheidung gewesen, Strafantrag gegen eigene Studierende und Mitarbeitende zu stellen; es ist eine politische Entscheidung gewesen, keine Solidarität oder Mitgefühl für die zivile Bevölkerung von Gaza auszusprechen; und es ist eine politische Entscheidung gewesen, zwei Jahre zuvor der Ukraine diese Solidarität zu bekunden. Doch auch fernab dieser kommunikativen Akte ist die ETHZ schon immer eine politische Institution gewesen, weil sie immer schon die politischen Beziehungen fortgesetzt hat, welche auf Bundesebene gepflegt wurden: Beziehungen zu Staaten und ihren militärischen Einrichtungen.

Diese beiden Aspekte, die Disziplinierung und Selbstdisziplinierung von ETHZ-Angehörigen zu unpolitischen Subjekten und das Doppelspiel der ETHZ, keine Politik machen zu wollen, aber doch immer politisch zu agieren, hängen unserer Ansicht nach zusammen. Die Schulleitung vertritt durchaus eine politische Meinung, nur gewinnt sie diese nicht in der Deliberation mit den Mitgliedern ihrer Institution. Ehrlicher wäre es daher gewesen, wenn sich unsere Hochschule statt mit politischer Neutralität von Anfang an mit politischer Fremdbestimmung verteidigt hätte. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass die ETHZ sich immer erst dann politisch positioniert, wenn es eine klare Linie aus Bern oder einen überwältigenden Konsens in der schweizerischen Mehrheitsgesellschaft gibt, denen man folgen kann. Deshalb gibt es auf der Webseite der ETHZ ein Statement der Solidarität mit der Ukraine, eines der Solidarität mit Menschen aus dem Iran von 2022/23 und eines der Solidarität mit Menschen im Nahen Osten, in welchem die palästinensische Bevölkerung nicht einmal beim Namen genannt wird. Dieser normative Standpunkt wird von der ETHZ aktiv verdrängt, um politische Neutralität für sich reklamieren zu können und jene Solidaritätsbekundungen und Interventionen als politischen Aktivismus zu verurteilen, die eine vom hiesigen Mainstream abweichende Position vertreten. Diese Äusserungen werden dann mit der Begründung verboten, sie seien nicht wissenschaftlich. Den Einsatz solcher rhetorischen Instrumente zur willkürlichen Einschränkung der Meinungsfreiheit und unverhältnismässig repressiver Massnahmen, um diese Verbote durchzusetzen, wollen und müssen wir nicht akzeptieren.

Es ist aber nicht nur die Inkonsequenz, die uns hier zu denken gibt, sondern auch der sehr exklusive und intransparente Prozess politischer Willensbildung. Ihre politische Dimension anzuerkennen, würde für die ETHZ bedeuten, mit schwierigen Fragen konfrontiert zu werden, wie etwa, wer und was diese politische Entscheidungsfindung der Institution mitbestimmt. Demokratisch läuft dieser Prozess an der ETHZ auf jeden Fall nicht ab, denn die Institution leitet ihre politische Haltung nicht aus den Überzeugungen ihrer Mitglieder ab. Solange die Schulleitung nicht anerkennt, dass es so etwas wie eine Politik der ETHZ gibt und solange diese Politik nicht das Ergebnis demokratischer Deliberation ist, bleiben Initiativen wie die am 21. Juni 2024 abgehaltene «Dialogveranstaltung» über die «direkten Folgen des Nahostkonfliktes für die Hochschule und unseren Umgang damit» leere Versprechen. Dialog, da sind wir mit der Schulleitung einig, ist das Ziel. Aber welchen Zweck hat ein Dialog, wenn von vornherein ausgeschlossen ist, dass unsere Meinungen und Inputs ernst genommen werden und auf die politische Willensbildung unserer Institution einwirken können?

* Korrekturanmerkung vom 12.09.2024: In der ersten Version des Beitrags war von 16 Strafanzeigen gegen ETH-Angehörige die Rede. Aktuell können 9 Anzeigen bestätigt werden.

Statt zuzuhören rief das Rektorat die Polizei

Robin (Universität Bern)

Angesichts des Genozids[1] in Gaza fühlte ich mich ohnmächtig. Aber auch entfremdet von der Uni Bern, welche mich als Student*in massgeblich geprägt hatte. Erst die Besetzung der Uni Tobler öffnete mir einen Raum, in welchem ich gemeinsam mit anderen über die Rolle und die Verantwortung von Unis nachdenken und diesen Reflexionsprozess in kollektives Handeln übersetzen konnte.

Universitäten sind in einer privilegierten Position, um im Kontext des Genozids an der palästinensischen Bevölkerung Druck auf den Staat Israel auszuüben. Dies liegt daran, dass ihre israelischen Partnerinstitutionen und die Militärindustrie des israelischen Staats sich gegenseitig bedingen. Die israelische Anthropologin Maja Wind erklärt in ihrem Buch «Towers of Ivory and Steel», dass israelische Universitäten ihren Campus, ihre Ressourcen, Studierende und Dozierende anbieten, um bei der Entwicklung von Technologien und Waffen zu helfen, die gegen Palästinenser*innen eingesetzt und dann weltweit als «kampferprobt» verkauft werden.[2] Weit davon entfernt, zivile Einrichtungen zu sein, bauen Universitäten ihre Aktivitäten nicht nur als militärische Ausbildungsstätten, sondern auch als Waffenlabors für den israelischen Staat kontinuierlich aus. Während eines Vortrags an der Universität Utrecht zitierte Wind den Leiter des Institute for National Security Studies an der Universität Tel Aviv, welcher gegenüber israelischen Medien erklärt habe, dass internationale Zusammenarbeit und Beziehungen der Sauerstoff der israelischen Universitäten sei und diese wiederum der Sauerstoff des Militärs.[3] Israelische Universitäten waren 2004 das erste und primäre Ziel der Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI) gegen die Besetzung palästinensischer Gebiete.[4] Die Initiant*innen erklärten ihren Aufruf zum Boykott israelischer Universitäten mit deren jahrzehntelangen institutionellen Komplizenschaft mit Israels «Unterdrückungsregime» gegen Palästinenser*innen.[5]

Durch ein Aussetzen der bestehenden Beziehungen mit der Hebrew University of Jerusalem respektive der Universität Haifa würde die Uni Bern klar zum Ausdruck bringen, dass sie nicht bereit ist, Völkermord, Apartheid und Kolonialismus zu normalisieren.[6] Als Orientierung könnten u. a. belgische, niederländische, norwegische und spanische Universitäten dienen, welche die Forderungen ihrer Studierenden bereits teilweise umgesetzt haben.[7] Diese begründen Sanktionen gegen israelische Universitäten mit dem Verweis auf problematische Verbindungen zum israelischen Militär und Staat sowie auf das Fehlen eines Bekenntnisses zum Frieden und zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts.[8] Das Rektorat der Uni Bern hat bisher aber eine inhaltliche Diskussion verweigert und in der Tamedia Presse das dominante Narrativ gestärkt: Protestierende seien ein Sicherheitsrisiko[9], argumentierten auf Basis einer unterkomplexen Einteilung der Welt in «Gut und Böse» und seien sehr wahrscheinlich antisemitisch eingestellt.[10] Die Unileitung sagt letztlich bloss in milderem Ton, was Tamedia unter dem reisserischen Titel «Das triviale Weltbild der Israel-Hasser» ebenfalls ausbreitet.[11] Statt ihren Studierenden zuzuhören, rief sie die Polizei auf den Campus.

Der Blick von nirgendwo

Die Berner Unileitung nimmt für sich in Anspruch, für Wissenschaftlichkeit einzustehen.[12] Dennoch lässt sie schlüssige Argumente vermissen und präsentiert in Interviews entweder persönliche Meinungen oder ein institutionelles Machtwort. Letztlich lautet die Haltung der Unileitung schlicht, dass die Uni Bern keine geeignete Adressatin für unsere Kritik sei. Der ehemalige Rektor Christian Leumann behauptete, dass die Uni keine politische Akteurin sei. Die neue Rektorin Virginia Richter spricht wiederum von «parteipolitischer Neutralität» und führt aus, dass die Uni «keine politische Institution wie eine Regierung oder ein internationaler Gerichtshof» sei.[13] Sie sähe es (deshalb?) nicht als Aufgabe der Uni an, «zu verschiedenen Konflikten Stellung zu nehmen».[14] Doch ist die Universität wirklich eine neutrale Institution oder setzt die Unileitung voraus, was gemäss ihren eigenen Standards zuerst zu beweisen wäre?

Das Rektorat scheint anzunehmen, es könne auf die Welt blicken wie auf eine Karte, von einer Position aus, die, wie der Historiker Bernhard Siegert schreibt, «theoretisch überall und nirgends» sein könnte.[15] Von dieser als «objektiv» verstandenen «Gottesperspektive» aus betrachtet das Rektorat, wie das israelische Militär an der palästinensischen Birzeit University, mit welcher die Uni Bern ein Austauschabkommen hat, Razzien durchführt, Studierende wie Dozierende verhaftet und einsperrt.[16] Und gleichzeitig, wie die Hebrew University of Jerusalem, mit welcher die Uni Bern ebenfalls durch ein Austauschprogramm verbunden ist, die Besetzung palästinensischer Gebiete aktiv mitträgt und sich als verlängerter Arm des Militärs versteht.[17] Maja Wind folgend naturalisierte der Wiederaufbau des Campus der Hebrew University auf dem Berg Skopus den Bau neuer Siedlungen auf enteignetem palästinensischem Land. Im Viertel Issawiyeh direkt unterhalb der Hebrew University sind Massenverhaftungen, Razzien mit Hunden mitten in der Nacht und die Androhung, als Bestrafung für Aktivismus Häuser abzureissen, noch immer an der Tagesordnung. Diese Eskalationstaktik werde von der Verwaltung der Hebrew University unterstützt, indem sie beispielsweise die Überwachung von Issawiyeh durch die israelische nationale Polizei von ihrem eigenen Campus aus erlaubt sowie den südlichen Eingang des Viertels blockieren liess. Die Hebrew University bietet ferner sowohl für die nationale Polizei als auch für die Israeli Defence Force prestigeträchtige Ausbildungsprogramme an. Sie trainiert das Personal derjenigen Institutionen, welche in Sichtweite des Campus die Besetzung mit Gewalt aufrechterhalten und Gaza mitsamt den Universitäten und Spitälern in ein Trümmerfeld verwandelt haben.

Ich und meine Mitaktivist*innen von UniBern_Besetzt halten diese schweigende Zuschauer*innenrolle nicht mehr aus. Auch deshalb nicht, weil wir wissen, dass wir als Bewohner*innen der Schweiz wie als aktive und ehemalige Studierende der Uni Bern eben nicht von nirgendwo auf den Horror in Gaza blicken: Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (FRONTEX), welche die Schweizer Steuerzahlenden mitfinanzieren, kaufte Drohnen bei den israelischen Herstellern Elbit Systems und IAI, um damit Geflüchtete im Mittelmeer zu überwachen, die sie dort ertrinken lässt.[18] Schweizer Bundesbehörden haben israelische Überwachungssoftware erworben und eingesetzt.[19] Elbit Systems Switzerland verkauft Funkgeräte und Drohnen an das Schweizer Militär.[20] Und die Schweizerische Nationalbank hat durch den An- und Verkauf von Elbit-Aktien seit Beginn des Genozids einen Gewinn erzielt.[21] Wie in den meisten Staaten des globalen Nordens blicken wir aus einer Position der Komplizenschaft auf den Livestream des Völkermords auf unseren Bildschirmen. Das zur Ware gewordene Wissen aus der Besetzung ist etablierter Bestandteil der vorherrschenden Migrations- und «Sicherheitspolitik».[22] Der israelische Aktivist und Anthropologe Jeff Halper erklärte vor dem Hintergrund des Exports israelischer Besetzungstechnologie, dass das, was Israel mit den Palästinenser*innen mache, eine Miniatur dessen sei, was der globale Norden mit dem globalen Süden macht.[23] Maja Wind sieht die internationale Besetzungswelle an Universitäten vielleicht auch deshalb als Beginn einer neuen Dekolonisierungsbewegung.[24]

Epistemische Gewalt

Das Rektorat der Uni Bern reflektiert weder die Beteiligung ihrer israelischen Partnerunis an der Besetzung palästinensischer Gebiete und ihre Verwicklung in den Genozid in Gaza, noch seine eigene Komplizenschaft. Es vermag sich selbst und die Uni Bern nicht als eingewoben in Beziehungsnetze, in Geschichte und in Herrschaftsstrukturen zu denken. In körperloser Abstraktion von oben betrachtet, schrumpft der Völkermord zu irgendeinem gewalttätigen Konflikt weit weg zusammen, dem eine vermeintlich gewaltfreie Wissensproduktion in Bern gegenübersteht. Die Sozialwissenschaftlerin Claudia Brunner erklärt in diesem Kontext, dass vom privilegierten Standort einer eurozentrischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gewalt aus betrachtet, diese meist «anderswo, anderswer und anderswas» ist.[25] Die Unileitung vergisst, dass die Uni, wie ich auf ihrer Webseite lesen darf, «in der Gesellschaft verankert ist».[26] Das heisst, in einer kapitalistischen Gesellschaft, in welcher koloniales Denken und Handeln noch immer bestimmend sind. Sie will nicht sehen, dass gerade Universitäten bestehende Herrschaftsordnungen sichern, «indem sie selbst innerhalb demokratischer Strukturen Privilegien stützen, Marginalisierungen fortschreiben und Selektionsprozesse naturalisieren».[27] Brunner spricht in diesem Zusammenhang von epistemischer Gewalt und meint damit «jenen Beitrag zu Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, der im Wissen selbst angelegt und zugleich für deren Analyse unsichtbar geworden ist».[28] Insbesondere mit Blick auf Gaza müssen wir an der Uni Bern über Möglichkeiten des Undoings epistemischer Gewalt verhandeln.

Was bedeutet es, neutral zu sein, wenn ich in einer ungleichen Welt auf derjenigen Seite lebe, die den grössten Teil der Ressourcen für sich beansprucht und andere davon ausschliesst? Was bedeutet Neutralität angesichts von Genoziden? Die Rhetorik der Neutralität bringt die imaginierte Aussenperspektive mithervor, welche bestehende Ungleichheit und Komplizenschaft mit Machtstrukturen in Abstraktion auflöst. Wenig überraschend findet sich als Synonym von Neutralität auch Indifferenz. Walter Benjamin sah diesbezüglich deutlich, dass «der Name der Wissenschaft» sich dazu eignet, «eine tiefeingesessene, verbürgerte Indifferenz zu verbergen».[29] Wenn eine Uni nicht einfach voraussetzt, dass sie über den Dingen steht, heisst Verantwortung wahrnehmen, an den epistemischen Brüchen im herrschenden Paradigma zu arbeiten, statt sich in ihm einzurichten.[30] Eindeutige Positionierung ist ebenfalls eine Möglichkeit, epistemische Gewalt zumindest teilweise zurückzunehmen.[31] Denn auch eine Unterlassungshandlung ist eine Handlung und damit ethisch und politisch relevant. Kein Statement ist auch ein Statement, wenn strukturelle Gewalt dadurch legitimiert oder unsichtbar gemacht wird. Und nicht zuletzt könnte eine Positionierung gegen den hegemonialen Diskurs marginalisierten Positionen den Weg bahnen. Auch ein Boykott israelischer Universitäten ist ein wichtiger Beitrag zur Rücknahme epistemischer Gewalt, weil diese Institutionen Wissen zur Verfügung stellen, um die Besetzung und das Apartheid-Regime fortzuführen und zu legitimieren sowie um einem Militärapparat zuzudienen, welcher vor unser aller Augen schwerste Kriegsverbrechen verübt.[32] Die Journalistin Naomi Klein schrieb bereits 2012 in ihrem Plädoyer für die Boycott Divest Sanction-Bewegung, dass wirtschaftliche Sanktionen das effektivste Werkzeug im gewaltfreien Arsenal seien und dass ein Verzicht darauf an aktive Komplizenschaft grenze.[33]

Doch damit die Uni Bern diesen Weg geht, braucht es Menschen, die in ihren Augen «unprofessionell» sind, die eine Szene machen und den Unialltag stören, weil sie sich nicht daran gewöhnen wollen, dass die Uni Bern Herrschaftsdienst leistet. Virginia Richter mag der Ansicht sein, dass «distanzloser Aktivismus»[34] an der Uni keinen Platz hat, doch die Institution selbst ist darauf angewiesen, um ihre kolonialen Denk- und Handlungsmuster zu überwinden. Ich hoffe, dass weitere Uniangehörige im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit uns herausfinden wollen, wie ein alternativer Pfad der Dekolonisierung und der Reduktion epistemischer Gewalt für die Uni Bern aussehen könnte. Um den Pfad zu verbreitern, müssen wir ihn zusammen gehen und uns gegenseitig unterstützen. Dies im Wissen, dass Studierende und Dozierende die Uni zu dem machen, was sie ist.



Autor*in
Robin hat an der Uni Bern studiert und als Hilfsassistent*in gearbeitet.


[1] Elias Feroz, «Amos Goldberg: Genau so sieht Völkermord aus», Jacobin, 10.7.2024, https://www.jacobin.de/artikel/israel-voelkermord-genozid-palaestina, (11.8.2024).

[2] Maya Wind, Towers of Ivory and Steel, London 2024.

[3] Marjorie van Elven, «Executive Board Members Attend Pro-Palestine Event for the First Time. Maya Wind: ‹Israeli Universities are Deeply Entangled with Military Projects›», DUB The independent news site of Utrecht University, 21.5.2024, https://dub.uu.nl/en/depth/maya-wind-israeli-universities-are-deeply-entangled-military-projects, (02.8.2024).

[4] Wind (wie Anm. 2).

[5] Maya Wind, «Israel’s Universities Are a Key Part of Its Apartheid Regime», Jacobin, 27.2.2024, https://jacobin.com/2024/02/israel-universities-palestine-apartheid-academia, (02.8.2024).

[6] Ilan Pappe, Ten Myths About Israel, London 2017.

[7] David Matthews, «Academic Boycotts over Gaza War Jeopardise Israel’s Place in Horizon Europe», Science Business, 23.5.2024, https://sciencebusiness.net/news/universities/academic-boycotts-over-gaza-war-jeopardise-israels-place-horizon-europe, (02.8.2024).

[8] Ebd.

[9] Sarah Buser, Markus Häfliger, «Berner Rektor zu besetzten Unis: ‹Ich fürchte um den Ruf des akademischen Systems der Schweiz›», Berner Zeitung, 16.5.2024, https://www.bernerzeitung.ch/nach-gaza-protesten-an-uni-bern-rektor-nimmt-stellung-812245909987, (11.8.2024).

[10] Naomi Jones, Stefan Schnyder, «Die Protestierenden haben durchaus berechtigte Fragen», Berner Zeitung, 3.8.2024, https://www.bernerzeitung.ch/uni-bern-virginia-richter-ist-die-erste-frau-an-der-spitze-690173199865, (4.8.2024).

[11] Fabian Renz, «Kommentar zu Pro-Palästina-Protesten: Das triviale Weltbild der Israel-Hasser», Berner Zeitung, 7.5.2024, https://www.bernerzeitung.ch/pro-palaestina-proteste-laussane-das-triviale-weltbild-der-israel-hasser-469899948097, (11.8.2024).

[12] Jones, Schnyder (wie Anm. 10).

[13] Marina Bolzli, Mara Hofer, «Distanzloser Aktivismus hat an der Uni keinen Platz», Die Hauptstadt, 12. 7.2024, https://www.hauptstadt.be/a/interview-virginia-richter?articleId=clyhbbu6j01dx8s06vzcmhqg0, (2.8.2024).

[14] Ebd.

[15] Bernhard Siegert, «(Nicht) Am Ort. zum Raster als Kulturtechnik». Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar 3 (2003), 100.

[16] Birzeit University, «Statement by Birzeit University on the Israeli Military Raid on its Campus and Detention of its Students», Birzeit University,25.9.2023, https://www.birzeit.edu/en/news/statement-birzeit-university-israeli-military-raid-its-campus-and-detention-its-students, (2.8.2024).

[17] Maya Wind, «Hebrew University a Pillar of Israeli Colonialism», Mail & Guardian, 29.4.2024, https://mg.co.za/thought-leader/opinion/2024-04-29-hebrew-university-a-pillar-of-israeli-colonialism/, (2.8.2024).

[18] Idoia Villanueva Ruiz, «Parliamentary Question. Procurement of Israeli Drones for the Surveillance of Migrants in the Mediterranean», European Parliament, 2.6.2020, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2020-003321_EN.html, (2.8.2024); Antony Loewenstein, The Palestine Laboratory. How Israel Exports the Technology of Occupation Around the World, London 2023, 100.

[19] Gabriel de Weck, Gilles Clémençon, «La Suisse utilise aussi un logiciel espion israélien du type Pegasus.», RTS, 11.8. 2001, https://www.rts.ch/info/suisse/12411718-la-suisse-utilise-aussi-un-logiciel-espion-israelien-du-type-pegasus.html, (2.8.2024).

[20] Marguerite Meyer, Ariane Lüthi, «Rüstungspolitik. Heikler Transfer von Know-how?», WOZ, 6.12.2023, https://www.woz.ch/2345/ruestungspolitik/heikler-transfer-von-know-how/!JFEH9FVVNVTE, (2.8.2024).

[21] Claude-Olivier Volluz, «Anlagepolitik der Nationalbank. Israelisches Rüstungsunternehmen verhilft der SNB zu Gewinn.», SRF, 28.6.2024, https://www.srf.ch/news/dialog/anlagepolitik-der-nationalbank-israelisches-ruestungsunternehmen-verhilft-der-snb-zu-gewinn, (2.8.2024).

[22] Loewenstein (wie Anm. 25).

[23] Jeff Halper, War Amongst the People. Israel, the Palestinians and Global Pacification, Vortrag im Lokal Pritličje in Ljubljana, 25.01.2016, https://www.youtube.com/watch?v=XDbISMEB4cQ, (2.8.2024).

[24] Wind (wie Anm. 2).

[25] Claudia Brunner, Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne, Bielefeld 2020, 13.

[26] Universität Bern, «Öffentlichkeit und Umfeld. Die Universität Bern ist in der Gesellschaft verankert und übernimmt dieser gegenüber Verantwortung», https://www.unibe.ch/universitaet/portraet/selbstverstaendnis/leitbild/oeffentlichkeit_und_umfeld/index_ger.html, (2.8.2024).

[27] Brunner (wie Anm. 25), 287.

[28] Ebd., 13.

[29] Walter Benjamin, «Das Leben der Studenten», in Johanna-Charlotte Horst et al. (Hg.), Unbedingte Universitäten. Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee, Zürich 2010, 47f.

[30] Cornelia Brunner, «Conceptualizing Epistemic Violence. an Interdisciplinary Assemblage for IR», International Politics Reviews 9(2021), 208.

[31] Ebd.

[32] Erasmus University Rotterdam, «Dr. Maya Wind’s Powerful Call for Accountability at Erasmus University. Book Talk and Panel Discussion with Lecturers and Students», Erasmus University Rotterdam, 2.7.2024, https://www.eur.nl/en/news/dr-maya-winds-powerful-call-accountability-erasmus-university, (9.8.2024).

[33] Naomi Klein, «Israel: Boycott, Divest, Sanction», in Audrea Lim (Hg.), The Case for Sanctions Against Israel, London 2012, o. S.

[34] Bolzli, Hofer (wie Anm. 13).